Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
innerhalb von wenigen Generationen in vielen Teilen des Frankenreiches eingeführt, wohl nicht nur von oben befohlen, sondern wegen ihrer Flexibilität und Praktikabilität auch vor Ort akzeptiert. Bei Grundstücksgeschäften rechnete man nur mehr selten mit einzelnen Äckern und abstrakten Flächenmaßen, sondern in Hufen. Das war der erste Schritt zur Gestaltung einer typisch mitteleuropäischen Kulturlandschaft.
Millennium und ottonische Renovatio
Allerdings bezog sich die Siedlungsfläche bis zum Ende des ersten Jahrtausends vor allem auf die landwirtschaftlichen Gunstlagen. Gegen Ende des ersten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung spürten die Menschen zum ersten Mal so etwas wie «Grenzen des Wachstums». Der von der Natur mehr oder minder bereitwillig zur Verfügung gestellte Lebensraum wurde eng.
In dieser Zeit kamen einige Gelehrte auf die Idee, die Welt würde ohnehin nach tausend Jahren untergehen. Ein Mönch namens Arnold von St. Emmeram in Regensburg hatte besonderes Pech: Auch er fürchtete den Weltuntergang im Jahr 1000. Als dieser nicht eintrat, kam er zur Überzeugung, es wären tausend Jahre nach dem Tod Christi gemeint. Er erlebte noch voller Angst das Jahr 1033. Nicht, weil so viele Menschen die Offenbarung des Johannes kannten (Offb 20, 1–10) oder einen Kalender hatten – als populärste Jahresangabe galt die Regierungszeit des Herrschers –, sondern weil es tatsächlich Krisenerscheinungen gab, kam es mancherorts zu einer Hysterie.
Für andere war es schon eine Zeit der beginnenden Blüte. Besonders im Südosten des Reiches spürte man deutlich die Erholung nach der Abwehr der Ungarngefahr mit der Schlacht auf dem Lechfeld 955. Die
Renovatio imperii Romanorum,
Erneuerung des Reiches der Römer, wie Otto III. († 1002) sein Programm nannte, hatte nicht nur eine damals nur wenigen zugängliche Facette in Kunst und Gelehrsamkeit. Sie bekam auch ein solides Fundament im Alltag vieler Menschen. Es begann nun die harte Arbeit, einen Teil der noch vorhandenen Wildnis in Kulturland umzuwandeln.
Wald und Wildnis als Orte der Kultur
Die Wüste spielt in der biblischen Geschichte eine große Rolle. Sie ist ein Ort des Übergangs, am Rande der Zivilisation, aber auch symbolisch an der Grenze zwischen dieser Welt und dem Jenseits. Das Volk Gottes wandert durch die Wüste ins gelobte Land (Buch Exodus, bes. 16f., Verkündigung an Mose Ex 3). Gott wird geradezu definiert als einer, «der sein Volk durch die Wüste führte» (Ps 136, 16). Man flüchtet dorthin wie Elija (1 Kön 19, 4), der dann am Berg Horeb seine Bestätigung als Gottesdiener erfährt, oder zieht sich dorthin zurück und wird, wie Jesus, in Versuchung geführt (Mt 4, 1–11). Johannes verkündete aus der Wüste den Messias und taufte jene, die umkehren wollen (Mt 3, 1–6). Man konnte zu ihm hinaus gehen, wie zu vielen Wüstenheiligen und Säulenpropheten und im Mittelalter zu den Einsiedlern und Mönchen. Die Kolonisierung der «Wüste» durch Mönche ist nicht bloß ein nützlicher Nebeneffekt, sondern eine Konsequenz ihrer Berufung.
Wo waren Wüste und Wildnis im mittelalterlichen Europa? Es war vor allem der Wald. Aber, so seltsam die Frage klingt, was ist ein Wald? Jede Person hat ein bestimmtes Bild davon im Kopf, und fast jede ein anderes. Was wir in Europa heute als Wald vorfinden, ist fast immer das Produkt jahrhundertelanger Bewirtschaftung. Das wäre lateinisch
silva
und ist schon vielfältig genug. Wenn sich Johannes in
einin walt
zurückzieht (Speculum ecclesiae deutsch 82/15),dann ist das in der lateinischen Terminologie ein
saltus,
ein Gestrüpp.
Der Übergang zwischen der Zivilisation und der Wildnis ist fließend, und zwar nach beiden Seiten. In den entlegeneren Gebieten waren geachtete Spezialisten unterwegs, wie z.B. Hirten und Imker, Förster und Jäger. Viele Wälder unterlagen einer besonderen Nutzung. Das konnte die Gewinnung von Reisig für das Küchenfeuer sein, die Weide im Wald, die Bienenzucht im Auengebiet oder der herrschaftliche Vorbehalt nach dem Forst- und Jagdrecht (S. 67). Wir kennen Gebiete temporärer Nutzung, wie wir es im Vorfeld von Burgen, Versammlungs- und Gerichtsplätzen fanden (S. 65). Solche Fluren heißen in der Dichtung oft «Heide», und das reimt sich auf «Freude».
Die Wildnis, der wir in den Dichtungen begegnen, ist eher ein Gemütszustand denn eine Gegend: Dort findet man Bewährung, z.B. wenn man höfische Regeln verletzt hat (Erec, S. 18), und kommt dann «geheilt»,
Weitere Kostenlose Bücher