Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
Land konnte man von Venedig bis Apulien richtige Reise-Arrangements erwerben. Der Handel im westlichen Mittelmeer war durch muslimische Seefahrer – ihre Feinde sagten Seeräuber – gestört, daher ging die überragende Bedeutung, die Marseille und die Rhone-Verbindung in der Antike und im frühen Mittelalter hatten, in der Karolingerzeit zurück. Marseille wurde von den Sarazenen in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts mehrfach heimgesucht. Ab dem 10. Jahrhundert erholte sich die Stadt allmählich. Im 13. Jahrhundert wurde Marseille zu einer selbstständigen Republik, die erst 1481 mit Frankreich vereinigt wurde.
Von Narbonne aus führte zur Römerzeit die Via Aquitania über Toulouse und Bordeaux zum Atlantischen Ozean, und von dort aus ging die Fahrt per Schiff weiter, die Küste entlang nach Norden oder nach Irland und zu den Britischen Inseln. Auch Narbonnewurde gegen Ende des 8. Jahrhunderts zerstört, aber dieser Landweg blieb von größter Bedeutung. Pilger aus Britannien gingen hingegen größtenteils über die Alpen.
Auf den Routen der Küstenschifffahrt kamen am Ende der Karolingerzeit die Normannen nach Westeuropa. Die Schiffe der Nordleute konnten – im Gegensatz zu denen der islamischen Seefahrer – nicht gegen den Wind kreuzen. Erst im 14. Jahrhundert vereinten sich die Eigenschaften der mittelmeerischen und der nordischen Schiffe. In der Nordsee gibt es eine annähernd kreisförmige Strömung etwa im Uhrzeigersinn, der die frühe Schifffahrt weitgehend unterworfen war. Es gibt eine skandinavische Sage, der zufolge ein Held wegen eines schönen Mädchens an der englischen Küste ausgestiegen sei und zu seinen Kameraden sagte, sie sollten im nächsten Jahr wiederkommen; das kann mit dieser Strömung zusammenhängen, die die Seefahrer dann wieder in dieselbe Gegend gebracht hätte.
Der Ärmelkanal war für mittelalterliche Verhältnisse nicht ohne Tücken: Die relativ kleinen Schiffe waren schlechtem Wetter und den schwierigen Strömungsverhältnissen zum Teil hilflos ausgeliefert. 1120 starben z.B. wegen der eigenen und der Schiffsleute Trunkenheit beide Söhne König Heinrichs I. von England in den Fluten des Kanals.
Aber auch auf den Flüssen war die Schifffahrt nicht ungefährlich. Die Flussschiffe waren – im Gegensatz zur Römerzeit – oft nicht viel größer als Zillen (flache Kähne) und kenterten leicht. Die Sage von der Lorelei ist eine Erfindung des Romantikers Clemens Brentano aus dem Jahre 1801. Aber die Gefahr, die für die Schifffahrt auf diesem Rheinstück bestand, war schon immer bekannt. Eine Legende, aufgezeichnet von Wandalbert von Prüm († um 870), erzählt, dass der heilige Goar, ein Südfranzose, sehr gastfreundlich gewesen sei. Daher habe er auch nach seinem Tod noch großen Wert darauf gelegt, dass Reisende am Rhein bei seinem Kloster, das gegenüber dem Loreley-Felsen lag, Halt machten und beteten. Wer das nicht tat, erlitt leicht Schiffbruch. Es war im Übrigenverboten, das geweihte Altarsakrament auf einem Schiff mitzuführen, weil es zu gefährlich wäre. Schwimmen konnten die meisten Leute im Mittelalter nicht.
Das Paradies
Das Paradies ist ein Obstgarten. Selbst das eine, verbotene Obst – im hebräischen Bibeltext ist es übrigens kein Apfel, sondern eine Zitrusfrucht – hat indirekt für die Christen die allerschönste Blüte hervorgebracht (Is 11, 1), den eingeborenen Sohn Gottes. Darum heißt es in der Osternacht
oh felix culpa,
oh selige Schuld.
Das Paradies als Garten ist wundervoll symbolisiert im Klosterplan von St. Gallen (S. 114, Nr. 44 und 45), wo die Gräber am Friedhof zwischen Obstbäumen liegen. Im Zentrum steht der neue Baum des Lebens: das Kreuz. Der Legende nach wurde das Kreuz Christi aus einem Spross des Paradiesbaumes geschnitten.
Die Mächtigen und Reichen haben keinen leichten Zugang zum himmlischen Paradies. Alle kennen wohl die berühmteste Fehlübersetzung der Literaturgeschichte vom Kamel, das eher durchs Nadelöhr ginge als ein Reicher ins Himmelreich (Mt 19, 24); ursprünglich war ein dickes Seil gemeint. Auch Alexander der Große kam nicht hinein (S. 84). Schon die Kirchenväter haben aber den Reichtum differenziert gesehen, und Rather von Verona († 974) spricht offen aus: «Wer soll spenden, wenn alle betteln?»
Reiche haben ihr eigenes, irdisches Paradies. Die
joie de la cort,
eine verwunschene Stätte namens «Freude des Hofes» ist ebenfalls ein
vergier,
ein Obstgarten. In der Dichtung muss man einige
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