Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
Heuschreckenschwärme (1338) erdulden. Das Erdbeben von 1348, das dem Bergsturz am Dobratsch (Villacher Alpe, Kärnten) folgte, erschütterte die Menschen auch psychisch. Im gleichen Jahr begann der schreckliche Siegeszug der Pest (S. 39f.). Die Schlacht von Crécy 1346, bei der die französischen Ritter gegen die englischen Bogenschützen eine katastrophale Niederlage erlitten und König Johann von Böhmen fiel, war vielen damals noch in Erinnerung. Die ganze Welt war aus den Fugen geraten. Diese Zeitenwende empfanden die Menschen viel deutlicher als alle anderen, die man konventionell als das Ende des Mittelalters annimmt.
Wiedergeburt und Neue Zeit
Der Übergang von der Gotik zur Renaissance erfolgte – wie der Übergang von der Romanik zur Gotik (S. 110) – nicht synchron in ganz Europa. Wieder standen mehrere Generationen lang zwei kulturelle Ausdrucksformen zur Verfügung. Bis ins 16. Jahrhundert wurden weiter gotische Kirchen gebaut. Der spätgotischen «Donauschule» folgte unvermittelt das Frühbarock. Verschiedene Auftraggeber bedienten sich in den gleichen Regionen verschiedener Stile.
Die Schrift der Renaissance, die wir im Wesentlichen heute noch verwenden, ist eine getreue Kopie der karolingischen Minuskel (so nennt man Schriften mit Groß- und Kleinbuchstaben). Man könnte fast von einer «Mittelalterrenaissance» sprechen. Soweit Burgen erhalten sind, stammt vielfach der größte Teil ihrer Bausubstanz aus dem 14. bis 16. Jahrhundert. Die Rezeption des Ersten Mittelalters im Zweiten und darüber hinaus bestimmt, wie an den Beispielen der Burg Runkelstein (S. 70f.) und der Manesse-Handschrift (S. 54f.) gezeigt werden konnte, ganz wesentlich unser Mittelalterbild. Die Reformation baut nicht nur auf den Reformbewegungen des Zweiten Mittelalters auf, ihre kritische Auseinandersetzung mit der Tradition wurde zu einer Grundlage der wissenschaftlichen Historie.
In vielen Barockbauten findet man bewusst erhaltene Zitate aus dem Mittelalter, um die Kontinuität zu betonen. Obwohl nur wenige Adelsfamilien ihre Herkunft verlässlich bis ins Mittelalter zurückverfolgen konnten wie das Haus Liechtenstein oder die Welfen, war diese Epoche nicht nur Gegenstand der Historiographie der Barockzeit, sondern wurde auch im höfischen Leben immer wieder zitiert. Bei allem Respekt vor den barocken Agrarreformen blieben im einfachen Alltagsleben viele mittelalterlichen Lebensformen bis zur Industrialisierung erhalten.
Die zuerst ideologisch und dann didaktisch vereinfachte Chronologie des Hintereinander sollte in einer Gegenwart, die geprägtist vom Wechselspiel vieler Kulturen, gründlich überdacht werden. So wie die moderne Genetik deutlich gemacht hat, wie viel von der bisherigen Evolution noch in uns steckt, ist die moderne Historie nicht bloß eine Rückschau, sondern auch eine Erforschung von Elementen der Gegenwart. Darüber hinaus lehrt sie Respekt vor den «Ungleichzeitigkeiten» in den Lebensformen verschiedener sozialer und ethnischer Gruppen.
Abb. 32: Stift Heiligenkreuz, NÖ. Die romanische Fassade
der Kirche aus dem 12. Jahrhundert wurde sorgfältig in das Ensemble
des barocken Hofes eingepasst.
Literaturhinweise
Die ausführliche Liste der Quellen und der Literatur, auf die sich dieser Band stützt und die zur erweiternden Lektüre empfohlen werden können, finden Sie unter www.chbeck.de/go/Brunner-Kulturgeschichte-des-Mittelalters .
Die Mediävistik hat leider nicht die große Tradition in der Kulturgeschichte wie die Altertumswissenschaften, die ja von Anfang an mit den Archäologen zusammenarbeiten mussten und daher gewohnt waren, die Brücke von den Schriftquellen bis zu den Überresten des realen Lebens zu schlagen. Bei der Auswahl wurde bewusst auch auf ältere Werke hingewiesen, auf die man vielleicht nicht mehr von selbst zugreifen würde, die aber Maßstäbe gesetzt haben.
Ein früher Klassiker der Kulturgeschichte, heute noch mit Gewinn zu lesen, ist z.B.
– H UIZINGA Johan, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und den Niederlanden (zuerst erschienen 1919, jetzt greifbar in der Ausgabe Stuttgart 2006).
Man kann daraus auch ein wenig über die Stimmung in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg lernen.
Ganz anders, aber ebenfalls klassisch ist das verfassungsgeschichtliche Werk – B RUNNER Otto, Land und Herrschaft (Darmstadt 5 1990).
Epoche machende Werke waren und immer noch gut zu lesen sind
– G UREVIč
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