Kleine Luegen erhalten die Liebe
haben.
»Was wir im Grunde wissen wollen, ist, ob wir Stand-by-Tickets bekommen können? Weil wir nichts gebucht haben, aber heute noch fliegen wollen.«
Das Gesicht der Asiatin hellte sich auf. »Ah! Sie möchten also auf die Warteliste gesetzt werden?«
»JA!«, antworteten alle im Chor.
Plötzlich wurde sie sehr lebhaft. »Stand-by« war offensichtlich etwas, was in ihrer Ausbildung schon vorgekommen war, wohingegen die Möglichkeit, Zielflughäfen aus Wollmützen zu ziehen, mit Sicherheit noch nicht erörtert worden war. »Oh, das hätten Sie gleich sagen sollen«, erwiderte sie mit ihrem starken asiatischen Akzent. »Ich hatte nicht verstanden, dass Sie Stand-by-Flüge wollten. Aber das ist kein Problem, lassen Sie mich nur mal nachschauen! Was war noch mal Ihr Reiseziel?«
Um ihr das ganze Konzept zu erklären (dass sie mehrere Zettel mit Zielorten in eine Mütze gelegt hatten und einen herausziehen wollten), hatten sie ihr am Ende einfach alles über Liv erzählt. Daraufhin war die junge Frau in echte Tränen ausgebrochen. »Wow, wie glücklich sie sich schätzen konnte, Freunde wie Sie zu haben!« Sie waren alle praktisch über den Schalter geklettert, um sie zu umarmen. »Wenn ich tot wäre, würden meine Freunde das nie im Leben für mich tun. Meine Freunde kann man vergessen. Sie sind diese Woche alle nach Lanzarote geflogen, um dort Urlaub zu machen, und haben mich hier sitzen lassen, weil ich es mir nicht leisten konnte mitzufliegen.«
Wenn es möglich gewesen wäre, hätten sie die kleine Asiatin mitgenommen.
Aber wohin flogen sie denn nun?
»Tja, Leute, wir können sowieso nichts aus dem Hut ziehen, bis Spanner hier ist«, knurrte Fraser.
Er war sowieso schon wütend auf Anna und grundsätzlich enttäuscht von ihr, aus einem ganzen Katalog von Gründen. Einer davon war die Tatsache, dass sie sich mit Norm und ihm in Paddington hatte treffen sollen, um den Heathrow-Express zu nehmen, aber weder erschienen war noch angerufen hatte.
»Sie mag nicht mehr so genannt werden«, sagte Mia.
»Pah, ich kann mir weitaus schlimmere Namen für sie vorstellen! Wo zum Teufel steckt sie? Es ist schon fast halb elf.«
Mias Mütze in der Hand, standen sie mitten in der Abflughalle und warteten. Im Flughafen herrschte noch die typische morgendliche Hektik: Kinder, die mitten in der Nacht aus ihren Betten geholt worden waren und sich blass und nörgelig an ihre Eltern klammerten; Paare, die jetzt schon ins Leere starrten und sich im Stillen fragten, ob der zweiwöchige Urlaub allein mit ihrem Partner wirklich eine gute Idee gewesen war. Ein Baby in seinem Kinderwagen, das brüllte wie am Spieß.
Wenn man sich genau umsah, gab es hier die kleinen Freuden und die Kümmernisse des Lebens zu beobachten, alle unter einem Dach. Da war eine Gruppe ausländischer Teenager, die ihre Gasteltern und -geschwister zum Abschied umarmten – fürs Leben geschlossene Beziehungen vielleicht? Eine Reise, die sie nie vergessen würden? In der Warteschlange für Flug BA134 nach Rom küsste eine Frau ein Baby zum Abschied; ihr Sohn hatte offenbar eine schöne, aber sehr redselige Italienerin geheiratet.
Mitten im Gedränge küsste sich ein Pärchen, das nicht älter als zwanzig sein konnte, und der junge Mann wischte demMädchen mit den Daumen die Tränen ab – ein schmerzlicher Abschied also.
Fraser beobachtete sie. Der junge Mann, groß, ein bisschen gammelig gekleidet und leidenschaftlich, erinnerte ihn an sich selbst in diesem Alter, und als Fraser den Blick abwandte, sah er, dass auch Mia die beiden gerade betrachtet hatte.
Für eine Sekunde begegneten sich ihre Blicke. Nach dem Zwischenfall mit Emilia Anfang Januar hatten sie irgendwann miteinander telefoniert, doch Fraser wusste nicht so recht, was das gebracht hatte. Falls je etwas zwischen ihnen gewesen war, so schien es jetzt endgültig vorbei zu sein.
Mia war beschämt gewesen, was an ihrem anhaltenden Schweigen nur allzu deutlich zu erkennen war. Fraser hatte mehrmals versucht, sie zu erreichen, weil er ihr unbedingt sagen wollte: Ich habe nicht mit ihr geschlafen! Ich konnte es nicht! Ich konnte es nicht, weil ich DICH liebe, weil ich immer noch verkorkst bin und so viele Gefühle habe, dass ich eins vom anderen nicht mehr unterscheiden kann …
Aber Mia ging nie ans Telefon, wenn er anrief, und er glaubte nicht, dass er seine Gefühle in einer Textnachricht richtig würde übermitteln können.
Irgendwann rief sie von sich aus an, an einem Mittwoch. Doch
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