Kleine Luegen erhalten die Liebe
Fraser war nicht der Typ, der zu Anfällen von Selbsterkenntnis neigte; er war in diesen Dingen eher verschlossen und machte alles mit sich allein aus.
Sie stellte den Kaffee vor ihn hin. »Na ja, wahrscheinlich schon. Aber das ist okay, denn daran kann man arbeiten.«
Er schenkte ihr ein schwaches Lächeln. »Darf ich dir etwas gestehen?«
Mia setzte sich. »Du bist in mich verliebt. Das ist okay.«
Fraser seufzte müde.
»Tut mir leid«, meinte Mia und bemühte sich, keine schmerzliche Grimasse zu schneiden. Ihr war bewusst, dass in düsteren Zeiten Humor ihre einzige Waffe war, um mit den Dingen umzugehen. In gewisser Weise, dachte sie oft, war Fraser viel mehr in Kontakt mit seinen noch offenen Wunden, und sie lagen auch näher an der Oberfläche als ihre, Norms, Melodys und Annas Wunden zusammen.
»Ich bin tief gesunken«, sagte er.
»Oh?«
»Bei dem ganzen Kummer, der Verwirrung und allem, womit ich nicht klarkomme, bin ich tief gesunken, Woodhouse. Richtig tief.«
»Ach was. So tief, wie ich in den letzten zwölf Monaten gesunken bin, kann es gar nicht sein«, entgegnete Mia und löffelte den Schaum von ihrem Kaffee auf die Untertasse. Fraser bemerkte es und fragte sich wieder einmal, warum sie immer Cappuccino bestellte, obwohl sie den Schaum so hasste. War nicht gerade der Milchschaum der springende Punkt bei einem Cappuccino? »Ich habe meinen Sohn einmal in der Obhut einer achtundsiebzig Jahre alten, verrückten Frau gelassen, die ihre Katze in die Schublade mit ihrer Unterwäsche pinkeln lässt.«
Fraser blinzelte und schüttelte den Kopf. »Was?«
»Bei Mrs. Durham. Du weißt schon, die alte Dame, um die ich mich dienstags kümmere. Billy zahnte gerade – das war immer meine Ausrede gewesen, aber wenn ich ehrlich sein soll, glaube ich inzwischen, dass er einfach nur einer dieser Schreibabys ist. Er würde mittlerweile etwa zweiundneunzig Zähne haben, wenn er wirklich so oft gezahnt hätte, wie ich die Leute glauben machte …«
Fraser lachte, zum ersten Mal seit Ewigkeiten richtig, wie ihm schien, und wieder einmal war er froh und dankbar, dass seine Freundin bei ihm und er nicht allein war.
»Na ja, auf jeden Fall war er damals nonstop das ganze Wochenende damit zugange. Ich brauchte unbedingt mal zwanzig Minuten für mich allein, und vor lauter Verzweiflung brachte ich ihn zu Mrs. Durham und drückte ihn ihr praktisch in die Hände wie einen Rugbyball. Sie ist ohnehin stocktaub und damit auch der ideale Babysitter.«
Beide lachten.
» Nun ja , wie ich schon sagte …«, begann Fraser wieder, und Mia konnte sehen, wie sehr ihm daran gelegen war, zum Punkt zu kommen. »Weißt du, als ich gestern in dem Taxi saß – ich hatte es vermasselt, war total verkatert und fast eine Stunde zu spät, weil der blöde Zug nur bis Preston fuhr –, da gab ich Liv die Schuld daran. Ich glaubte allen Ernstes «, sagte er in einem Ton, als wäre das die absurdeste Vorstellung überhaupt, »dass sie die Dinge vom Himmel aus manipulierte und mich auslachte. Irgendwann sagte ich sogar laut in dem Taxi – dessen Fahrer zum Glück die Trennscheibe hochgefahren hatte, sodass er es nicht hören konnte: ›Okay, jetzt reicht’s, Olivia, das ist nicht mehr lustig.‹«
Mia grinste verstehend. Am Tag der Beerdigung hatten sich auch allerlei verrückte Dinge ereignet, und sie hatte genau das Gleiche gesagt. Zunächst einmal war Eduardo am Abend zuvor, als er aus dem Pub heimgekommen war, durch eine offene Falltür in der Straße in den Bierkeller eines Pubs gefallen und hatte sich das Bein gebrochen, sodass er es nicht mal zum Begräbnis schaffte. Dann hatte sich die Batterie von Mias Auto ohne ersichtlichen Grund als leer erwiesen, und sie hatte Fraser bitten müssen, sie mitzunehmen. Und auch sie hatte gedacht, dass Liv, der ewige Spaßvogel, dahintersteckte. Doch das war am Tag der Beerdigung gewesen, vor inzwischen schon achtzehn Monaten. An einem ungewöhnlich düsteren Tag – wie eine Szene aus einem Film: Mia konnte noch immer nicht glauben, dass es tatsächlich geschehen war.
Sie sagte: »Aber das war doch irgendwie schön, oder? Zu fühlen, dass sie noch bei uns ist? Den Olivia-Jenkins-Effekt?«
»Ja, doch ich ertappe mich immer wieder dabei, dass ich ihr die Schuld an vielen Dingen gebe«, erwiderte Fraser. »Daran, wie ich mich fühle, was ich tue – oder, schlimmer noch, nicht tue. Aber es ist nicht ihre Schuld, oder?«, fuhr er fort. »Nichts von alledem: wie ich mich fühle, wie du
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