Kleine Luegen erhalten die Liebe
dich fühlst, den totalen Mist, den ich aus meinem Leben zu machen scheine – es ist nicht ihre Schuld, dass sie uns verlassen hat, nicht wahr? Oder …« Er unterbrach sich.
»Oder was?«, hakte Mia nach.
»Nichts. Du weißt schon.«
»Du musst damit aufhören, Fraser, ganz im Ernst.«
»Ja, ja, ich weiß.«
»Ich weiß, dass es schwer ist – ich denke auch daran –, aber das ist wirklich ungesund. Außerdem«, sie beugte sich über Billy, der eingeschlafen war, »ist es Blödsinn und völlig irrelevant.«
Fraser schwieg.
»Ist es das nicht?«, fragte sie mit einem weiteren Blick in Billys Kinderwagen. »Irrelevant, meine ich?«
»Ja, wahrscheinlich schon. Das Überlebenden-Syndrom und all das. Und es ändert ohnehin nichts.«
»Genau«, sagte Mia. »Es ist also nicht ihre Schuld, Fraser. Ihre Schuld ist die Tapete in deinem Wohnzimmer und die bedauerliche Tatsache, dass wir das neue Jahrtausend in einer Warteschlange für einen Kebab begrüßen mussten.«
Fraser verdrehte die Augen. »Das hast du ihr nie verziehen, was?«
»Nein, und das werde ich auch nie«, erwiderte sie augenzwinkernd, um ihm zu zeigen, dass sie nur scherzte.
♥
Mia beobachtete Fraser, als er, die Füße entspannt auf einem anderen Stuhl, in der kalten Morgensonne seinen Kaffee trank. Er könnte wie jemand beim Après-Ski wirken, wenn er nicht so vernachlässigt aussähe. Sein welliges Haar, das offenbar tagelang nicht gewaschen worden war, war fettig und im Nacken zu einem hässlichen Rattenschwanz zusammengenommen. Frasers Haut war heute leichenblass, und ihr fehlte die Elastizität, die man bei einem gerade dreißig Jahre alt gewordenen Mann erwarten könnte. Aber Mia konnte nicht bestreiten, dass er dennoch attraktiv war. Oder sympathisch – vielleicht war es ja auch nur das. Was immer es war, Mia fühlte sich jedenfalls unwiderstehlich zu ihm hingezogen. Vielleicht war es die »Ebenmäßigkeit seines Gesichts«, über die sie immer in den geistlosen Zeitschriften las, die sie benutzte, um ihr Gehirn noch mehr zu betäuben, nachdem sie Billy abends zu Bett gebracht hatte. Vielleicht sah er auch wie ihr Dad aus – nicht, dass sie etwa wüsste, wie ihr Dad aussah.
Doch er hatte etwas Natürliches, Authentisches an sich, etwas … ja, was konnte das sein? Etwas Nördliches vielleicht?Er sah jedenfalls nicht wie die Rugbylümmel der angrenzenden Grafschaften aus, mit denen sie zur Schule gegangen war, oder auch nur wie die Typen aus der Kunstszene mit ihren affigen Frisuren und ätzenden Klamotten. Nein, Fraser war definitiv viel natürlicher als all diese Jungs. Man würde ihm nie eine Rolle in einer romantischen Komödie von Richard Curtis geben, dachte sie, aber vielleicht in einem Film von Mike Leigh.
Er besaß Charme, statt schön, auf robuste Weise attraktiv oder auch nur besonders gut aussehend zu sein, wenn sie es genau bedachte. Fraser hatte dichtes, dunkles Haar, das hübsch gewellt war, wenn er es wusch, mandelförmige blaue Augen, die sein bestes Merkmal wären, wenn er nicht so schlecht sähe und ständig mit zusammengekniffenen Augen herumliefe, da er sich nie die Zeit nahm, zum Augenarzt zu gehen. Von Leuten, die ihn nicht kannten, wurde das oft als mürrischer Gesichtsausdruck missverstanden, was Mia sehr bedauerte, da es etwas leicht zu Behebendes war. Aber Fraser schien es leider vorzuziehen, mit beeinträchtigter Sicht durchs Leben zu gehen.
Er hatte eine hübsche, ein klein wenig platte Nase, die mit Sommersprossen und – wie Mia heute bemerkte –, geplatzten Äderchen übersät war: ein deutliches Anzeichen seines exzessiven Alkoholgenusses in der letzten Zeit. Sein Mund war schön, die Zähne ein wenig verfärbt nach einem langen und intensiven Verhältnis mit Silk Cut, aber er hatte dennoch einen schönen Mund mit ausdrucksvollen Lippen, die heute Morgen eine wunde Stelle hatten.
»Was ist?«, fragte er plötzlich.
»Äh …« Mia riss sich aus ihrer Betrachtung. »Nichts. Du hast nur Krautsalat an den Lippen.«
Er lächelte – denn so hatte Liv es immer genannt – und legteverlegen einen Finger daran. »Ich weiß. Ich fing gestern Abend mit dem Kratzen an.«
»Du lässt es klingen wie Arbeit – und fass die Stelle nicht an, sonst verbreitest du den Herpes in deinem ganzen Gesicht.«
Fraser schnaubte nur.
»Wie auch immer«, fuhr sie fort, »ich dachte gerade daran, dass du sagtest, Liv hätte über dich gelacht. Ich meine, abgesehen davon, dass es ein bisschen morbide ist,
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