Kleine Luegen erhalten die Liebe
überwältigt, weil ihm der Gedanke kam, was zum Teufel er heute mit sich angefangen hätte, wenn sie nicht da wäre? Für eine Sekunde war er versucht, die Hand nach ihren Beinen auszustrecken, doch natürlich unterdrückte er den Impuls schnell wieder.
Billy nuckelte inzwischen nicht gerade sehr begeistert, wie es schien, an einer Milchflasche, und als Mia sie ihm für einen Moment abnahm, um sie zu schütteln, fing er an zu weinen. Das Weinen steigerte sich schnell zu einem nervtötenden Schreien. Es erinnerte Fraser an etwas, und er merkte, dass sein Herz so wild pochte, als wollte es ihm jeden Moment die Brust zersprengen. Mia gab Billy die Flasche zurück, und sofort trat wieder Stille ein. Fraser konnte Billys rote Bäckchen sehen und sein gieriges, zufriedenes Schmatzen hören, aber er konnte auch noch immer etwas anderes hören. Ein ziemlich unerträgliches Geräusch.
»Oh Gott, Frase! Oh, Mist …«
Erst als Mia ganz fest die Arme um ihn schlang, wurde ihm bewusst, dass das Geräusch von ihm kam.
KAPITEL VIER
Mia brachte Fraser dazu aufzustehen, um so schnell wie möglich die Wohnung zu verlassen – was in Wirklichkeit, wie er leicht belustigt registrierte, über eine Stunde dauerte. Die Hälfte dieser Zeit ging dafür drauf, den sehr aufgebrachten kleinen Billy in seinen Schneeanzug zu zwängen.
»Ich sagte dir doch, dass ich mit Mussolini lebe«, schrie Mia über den Lärm hinweg, während Fraser vollkommen verdattert zusah. Sie hatte recht. Verdammt. Wie konnte so ein kleines Wesen einen derartigen Lärm veranstalten? Musste Mia das wirklich jeden Tag durchmachen, nur um aus dem Haus zu kommen? In den Monaten nach Livs Tod hatten sie viel Zeit miteinander verbracht – zuerst, als Mia schwanger war, und dann in jenen schwierigen Monaten nach Billys Geburt. Doch Fraser hatte keine Ahnung gehabt, wie ihr Alltag aussah, dessen Realität ihn jetzt geradezu bestürzte.
Und Billy sieht so aus, wie ich mich fühle, dachte Fraser.
»Darf ich das jetzt bitte auch tun?«, fragte er. »Mich auf den Boden werfen und brüllen, während du mich in eine Zwangsjacke steckst?«
Sie gingen auf direktem Weg in die City zum Sunbury Café . Draußen war es schneidend kalt, der Himmel klar und blau wie buntes Glas. Im Sunbury Café , das in einer kopfsteingepflasterten Straße und einem der georgianischen Sandsteinhäuser Lancasters lag, hatten sie sich als Studenten oft getroffen. Bei Butterkeksen und Cappuccino hatten sie damals auf schmiedeeisernen Stühlen gesessen, als wären sie Damen, die fein zu Mittag aßen, nicht mittellose Studenten, und hatten die Themen des Tages erörtert (damals, als Reden nochschlicht und einfach dem Vergnügen diente): ob Phillip Schofield sich die Haare färbte oder ob Prinz Harry das uneheliche Kind James Hewitts war. Aber sie sprachen auch über Heirat, Kinder und in welcher Reihenfolge sie all das in Angriff zu nehmen gedachten.
Obwohl Mia ihren Stil gern als »den einer Künstlerin« bezeichnete (auch wenn er in letzter Zeit mehr der einer alleinerziehenden Mutter war, die von der Stütze lebte), war sie doch im Grunde ihres Herzens eine Traditionalistin und hatte zu beidem Ja gesagt, und das auch in der richtigen Reihenfolge. Liv hatte sich für Heirat ausgesprochen, Kinder zu bekommen jedoch ganz entschieden abgelehnt. »Nur über meine Leiche!« Wie sich diese Worte nun doch rächten!
Mia hatte diese Zeiten geliebt, in denen alles noch hypothetisch gewesen war und man das Gefühl gehabt hatte, das Leben sei ein Spiel, bei dem man jederzeit die Neustart -Taste drücken konnte. Ganz anders als heute, wo sich alles so real anfühlte.
Als sie mit einem großen schwarzen Kaffee für Fraser und einem Cappuccino für sich selbst zur Terrasse des Cafés zurückkehrte, betrachtete sie ihn mit mütterlichem Blick. Das war das Komische: Es fiel ihr nicht schwer, mütterliche Zuneigung zu ihren Freunden zu empfinden; es war nur ihr Sohn, bei dem sie manchmal Schwierigkeiten damit hatte.
Fraser, in seinen Parka eingemummt wie in eine Decke, schob Billys Kinderwagen hin und her – ein bisschen zu ruckartig, wenn Mia von der pingeligen Sorte wäre, was sie nicht war –, um ihn zum Einschlafen zu bringen. Mia dachte, was für einen reizenden Dad er abgeben würde, und fragte sich, ob er Liv umgestimmt hätte und sie vielleicht inzwischen schon ein Baby hätten, wenn sie noch leben würde.
»Also bin ich im Grunde eine Katastrophe«, bemerkte erplötzlich zu Mias Überraschung.
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