Kleine Luegen erhalten die Liebe
»es war nur eine Idee.« Und so beschlossen sie, zu einem reinen »Mädchenwochenende« nach Venedig zu fahren, während die Jungs nach Vegas fliegen würden, um eine der Aufgaben zu erfüllen, die Norm gezogen hatte: Vegas, Baby! Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Norm das große Los gezogen.
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Mia war nach wie vor entschlossen, sich zu amüsieren und diese Reise zu einem echten Tribut an Liv zu machen. Bisher wäre sie mit ihnen zufrieden, das wusste sie: Prosecco zum Frühstück, eine Gondelfahrt danach …
»Okay, Leute«, sagt sie, »was wir jetzt noch brauchen, ist ein Eis.«
»Mm, am liebsten Erdbeer und von ihm serviert«, sagt Melody und deutet mit dem Kopf auf Lorenzo, der ihnen den Rücken zugedreht hat und die obligatorische Gondoliere-Tracht mit gestreiftem Oberteil und steifem, rundem Strohhut trägt. »Im Ernst, Mädchen – seht euch doch nur mal diesen sensationellen Knackarsch an!«
Mia und Anna wechseln einen Blick, Anna über den Rand ihres Handbuchs Buddhismus fürs Leben , das sie wegen ihrererst kürzlich erwachten, angeblich jedoch »lebenslangen« Leidenschaft für den Buddhismus am Flughafen gekauft hat.
Schon seit ihrer Ankunft gestern Abend hat Melody mit diesen bizarren, übersexualisierten Bemerkungen begonnen und benutzt Worte wie »Knackarsch« und »sensationell«, als hätte der bloße Aufenthalt im Land der Romantik und Liebe sie plötzlich in eine läufige Hündin verwandelt. Oder in eine Joan Rivers.
Mia würde es nicht stören – Gott, bei diesem Urlaub fühlt sich alles wie Vergangenheitsbewältigung an, und wenn sie sich als 50er-Jahre-Filmstar sehen will, sollte Melody ruhig Joan Rivers sein –, aber es ist einfach nur so völlig untypisch für sie. Melody hat immer nur Augen für Norm gehabt, und als Norms Freundin erschrickt Mia und würde am liebsten jedes Mal »He!« schreien, wenn Melody Bemerkungen zum »Knackarsch« irgendeines Kellners macht. Es stimmt sie traurig, weil es nur ein weiteres Anzeichen von vielen in den letzten Monaten ist, dass nicht alles in Ordnung ist zwischen den beiden, von denen jeder glaubte, sie würden ihr Leben lang zusammenbleiben. Und wenn Norm und Melody, die schon auf dem College ein Paar waren, es nicht schafften, welche Hoffnung bestand dann noch für alle anderen?
Gerechterweise muss Mia zugeben, dass auch Norm wahrscheinlich nicht allzu viel an seine Frau denkt, da er in Vegas inzwischen vermutlich schon bankrottgegangen oder verhaftet worden ist. Sie stellt sich die Jungs am Pokertisch vor, einen Jack Daniels neben sich, sieht die Mädchen in ihrer Gondel und lacht im Stillen, weil dies alles so klischeehaft ist! Und wer hätte gedacht, dass der Grund ihres Hierseins von einem Klischee so weit entfernt ist, wie er es nur sein kann: dass sie nicht auf einem Damen- oder Herrenurlaub waren, sondern einer toten Freundin Tribut zollten. Doch dieses Wochenende wird etwasBesonderes. Mia hat nicht ihren Sohn bei seinem Vater gelassen und ihre Ersparnisse geopfert, damit es das nicht wird …
»Was glaubt ihr, was die Jungs gerade tun?«, fragt sie in dem Versuch, die Stimmung ein wenig aufzuheitern.
»Trinken«, erwidert Anna, ohne von ihrem Buch aufzuschauen.
»Oder einander in einem Elvis-Kostüm in der Little Chapel of Love ihre Liebe gestehen?«, fügt Mia hinzu.
Anna kichert. »Ich kann mir Norm sehr gut in einem Elvis-Anzug vorstellen, besonders mit seinen Koteletten«, sagt sie. »Bei Fraser bin ich mir allerdings nichts so sicher, wie er in weißen Satinhosen mit Schlag aussehen würde.« Dann machen beide eine Pause, als erwarteten sie auch von Melody eine witzige oder liebevolle Bemerkung, doch sie verdreht nur mit dem ganzen Charme einer leidgeprüften Ehefrau die Augen und murmelt: »Andrew« (so nennt sie ihn neuerdings, was sie früher nie getan hat, da war er immer Norm für sie) »wird mit einem Hitzschlag im Bett liegen. Ich habe ihn gewarnt, dass er mit der Hitze in Las Vegas nicht zurechtkommen wird. Er konnte noch nie Hitze vertragen.«
Bisher lässt Melodys Verhalten darauf schließen, dass sie den armen Norm keineswegs vermisst, sondern höchstens froh ist, ihn für ein paar Tage los zu sein.
Aber vielleicht ist es nur »Übertragung«, denkt Mia. Es ist ein Wort, das Valerie einmal benutzte, die Therapeutin, von der sie nach Livs Tod behandelt wurde und dann als Eduardo sie verlassen hatte, und das Mia zurzeit sehr häufig anwendet. Die Tatsache, dass es eine Bezeichnung dafür gibt, hilft ihr,
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