Kleine Luegen erhalten die Liebe
sein?
»Ich, ähm … tut mir leid, aber ich muss jetzt gehen. Es ist später, als ich dachte.« Sie blickte nicht auf, doch sie glaubte, ein kurzes, ungläubiges Ausatmen zu hören. Oder ein enttäuschtes? »Außerdem habe ich genug getrunken. Aber warte mal, ich gebe dir etwas dazu.«
Sie fischte ihr Portemonnaie aus der Manteltasche und drückte Fraser eine Fünfpfundnote in die Hand. »Danke für die Moussaka!«, sagte sie, schon auf dem Weg zur Tür.
KAPITEL ACHT
Mai 2008,
Venedig und Las Vegas
Mia hat in ihrem ganzen Leben noch nie etwas so atemberaubend Schönes gesehen wie Venedig im Mai. Im Moment – um zehn Uhr dreißig an einem wolkenlosen Morgen – sitzen sie, Melody und Anna in einer Gondel, die von den zerfallenden terrakottafarbenen Häusern rechts und links beschattet wird, während Lorenzo, ihr Gondoliere, die schmalen, smaragdgrünen Wasserstraßen des Canal Grande befährt, die hin und wieder in glitzernden Lagunen enden.
Mia, die sich viele Gedanken über ihre Garderobe für ihre allererste Reise ohne Billy gemacht hat, wird plötzlich von einem unerwarteten Glücksgefühl erfasst, was heutzutage nur sehr selten vorkommt, wenn es um Kleider geht. Aber was sie im Kopf gehabt hatte – die italienische Riviera um 1955 –, hat sich tatsächlich verwirklicht, und ihr Outfit aus einer weißen Capri-Hose, einer schlichten, an der Taille gebundenen Bluse und der goldgerahmten Ray-Ban (auch wenn sie nur eine Imitation für vier neunundneunzig vom Drogeriemarkt ist) ist einfach perfekt für den Anlass. Zum ersten Mal seit dem Ende ihrer Schwangerschaft hat sie das Mode-Nirwana erreicht.
Sie rutscht ein bisschen tiefer auf ihrem Sitz in der Gondel und erhebt das Gesicht zu dem strahlend blauen venezianischen Himmel, denkt an Fraser und Norm und fragt sich, ob sie jetzt wohl auch unter einem unversöhnlich heißen Himmel stehen. In ihrem Fall ist es allerdings der, der die Wüste von Nevada verdorren lässt. Mia war zwar noch nie in der Wüstevon Nevada, aber sie stellt sich die beiden Männer mitten in einem roten, vollkommen verdorrten Landstrich vor – schwitzend, übellaunig und wahrscheinlich reichlich angetrunken – und kann sich ein Lächeln nicht verkneifen.
(Wie das Schicksal es will, sitzen sie in Wahrheit ebenfalls in einer Gondel, nur dass ihre elektrisch ist und einen anderen Canal Grande hinunterfährt: den künstlichen im zweiten Stock des Casinos und Hotels Venezia auf dem Las Vegas Strip, einer protzigen Monstrosität. Dort haben sie den größten Teil des Nachmittags und den ganzen Abend damit verbracht, Jack Daniels zu trinken, weil … na ja, man das eben in Las Vegas tut. Und jetzt sind sie auf dem besten Weg, sich sehr ernsthaft zu betrinken. Zumindest darin hat Mia also recht.)
Als Mia Nummer acht auf Livs Liste aus dem Hut zog: Nach Venedig fahren, aber diesmal richtig, und in Harry’s Bar einen Bellini trinken , dachte sie, dass eine Reise nach Venedig etwas war, was sie alle zusammen unternehmen könnten. Genau wie früher! 2001 waren alle Mädchen ihrer Clique dort gewesen, auf einer Interrail-Tour, auch wenn »dort gewesen« eine sehr locker auszulegende Beschreibung war. Im Grunde hatten sie nur den Zug verlassen, um eine Gondelfahrt zu unternehmen und in einem Lokal in der Nähe des Markusplatzes völlig überteuerte Spaghetti Bolognese zu essen. Überzeugt, Venedig »gesehen« zu haben, waren sie dann gleich wieder in den Zug gestiegen, um nach Pisa weiterzufahren und sich gegenseitig beim »Stützen« des Schiefen Turms zu fotografieren.
Vielleicht konnten sie es diesmal wirklich richtig machen. Wie damals, nur besser. Auch wenn nichts , wie Anna sie alle empört belehrt hatte, je wieder so wie damals sein würde. Diese Bemerkung hatte Mia erröten lassen, da ihr das natürlich viel zu gut bewusst war. Dies waren neue Zeiten, tapfere (vielleicht nicht ganz so sehr in ihrem Fall) Post-Liv-Zeiten .
»Warum willst du eigentlich, dass die Jungs mitkommen?«, hatte Anna mit einem Gesicht gefragt, als bisse sie in eine Zitrone. »Können wir denn gar nichts mehr ohne sie unternehmen? Wie nur mal unter uns in Urlaub fahren?«
In letzter Zeit sah Anna – die schöne, leidenschaftliche, leichtsinnige Anna – ziemlich oft so aus, als bisse sie in eine Zitrone. Mia hatte schon begonnen, sich zu fragen, ob dieser verbitterte Ausdruck sich allmählich setzte, und das bereits mit neunundzwanzig. »Klar können wir das«, sagte Mia, die sich plötzlich schämte,
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