Kleine Luegen erhalten die Liebe
sich irgendwie besser zu fühlen. Denn das Problem ist, dass sie Billy nicht vermisst. Nicht wirklich. Und zu was für einem Menschen oder was für einer Mutter macht sie das?
»Oh, du wirst dich schrecklich fühlen, wenn du ihn zurücklässt!«, hatten Jo und Tamsin ihr gesagt. Die beiden sind Mütter aus ihrer Spielgruppe für Mutter und Kind, bei der Mia sich kürzlich angemeldet hat. Allerdings bezweifelt sie, ob diese Entscheidung richtig gewesen ist, denn beim ersten Mal, als sie mit Billy hinging, brüllte er wie am Spieß, und beim zweiten Mal warf er einem anderen Kind einen Bauklotz an den Kopf.
»Ich habe Daisy noch nie über Nacht bei jemand anderem gelassen«, hatte Tamsin hinzugefügt.
Und warum zum Teufel nicht?, hätte Mia fast erwidert. Schließlich hast du einen kostenlosen Babysitter, der bei dir lebt. Das ist etwas, was sie nicht versteht: verheiratete Mütter, die nie ausgehen und sich pausenlos darüber beklagen. Wenn sie jemanden hätte, der unter ihrem Dach lebte, wäre sie jeden Abend unterwegs.
Um noch eins draufzusetzen, hatte auch ihre Mutter Mia noch Schuldgefühle eingeflößt, und zwar auf ihre entnervend subtile Weise. »Oh, du wirst ihn doch nicht allein lassen, oder?«, hatte sie in diesem »Der arme kleine Junge«-Ton gesagt. Es machte Mia rasend. Wie oft hatte ihre Mutter sie bei ihrer Großmutter oder bei Tante Gill gelassen, manchmal für ganze vierzehn Tage an einem Stück, damit sie mit dem Typen, mit dem sie gerade herummachte, in Urlaub fahren konnte? Oder an wie vielen Wochenenden hatte Mia als Kind draußen vor einem Pub gesessen und unzählige Gläser Limonade in sich hineingeschüttet und Tüten Chips verputzt, während sie darauf gewartet hatte, dass ihre Mutter sie nach Hause brachte?
Noch ärgerlicher sogar als alles andere ist, dass es funktioniert hat und sie sich tatsächlich schuldig fühlt; sie hat Gewissensbisse, weil es ihr keine Gewissensbisse bereitet hat, Billy zurückzulassen – sie konnte ja nicht einmal schnell genug aus der Tür herauskommen!
Eduardo hatte sie angesehen, als ließe sie ihn ohne Proviant am Fuße des Mount Everest zurück. Aber sie dachte nur: Dein Pech, Freundchen! Wenn ich das zehn Monate hingekriegt habe, kannst du es verdammt noch mal zumindest für ein Wochenende! Als sie endlich aus dem Haus kam, um den Zug zum Flughafen zu nehmen, hatte sie sich noch nie leichter und unbeschwerter als in diesem Augenblick gefühlt. Sich einen Kaffee zu kaufen und ihn trinken zu können ohne Furcht, dass ihr Baby ihn umstoßen und sich verbrennen könnte, oder einfach mal eine Stunde dasitzen zu können, ohne aus Das ist nicht mein Traktor vorlesen zu müssen, ist geradezu fantastisch!
Natürlich sorgt sie sich, ob es ihrem Baby bei seinem nichtsnutzigen Vater gut geht. Ob er daran denken wird, dass der Kleine mehrmals am Tag gefüttert werden muss? Oder ob er merken wird, dass Billy nur wie ein Irrer schreit, weil er müde ist? Doch wenn sie ehrlich sein soll, kommen ihr diese Gedanken eher selten, weil sie frei ist! Zum ersten Mal seit beinahe einem Jahr ist sie frei, und hier zu sitzen und sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen fühlt sich echt … unglaublich an!
Und abgesehen davon ist es auch der Test. In den letzten paar Monaten hat Mia Eduardo eine Chance gegeben. Tief im Innersten macht sie sich Sorgen, dass das vielleicht die schlechteste Idee war, die sie jemals hatte, aber bisher hält sie sich daran, weil sie jemanden braucht und eine Familie haben möchte. Sie hat es satt, eine alleinerziehende Mutter zu sein. Das ist weder cool noch romantisch, sondern verdammt ätzend, und vielleicht braucht sie ja nur zu Zugeständnissen bereit zu sein und sich damit abzufinden, dass Eduardo nie perfekt sein wird.
Fraser scheint auch Kompromisse zu machen – große sogar, wie Mia findet. Wann immer sie ihn im letzten Monat angerufen hat, war er mit Karen auf dem Weg zu einer Hochzeit,kam gerade mit ihr vom Salsa-Unterricht zurück oder fuhr mit ihr zu diesem gottverlassenen Milton Keynes hinaus, um etwas abzuholen, das Karen bei eBay gekauft hatte. Es ist Wahnsinn. Der reinste Wahnsinn! Wenn Liv es sehen könnte, wäre sie sprachlos, weil Karen ihr so unähnlich wie nur was ist. Seit Wochen schon muss Mia sich auf die Zunge beißen, um nicht herauszuplatzen: »Ist das dein Ernst, Fraser, dass Karen dich glücklich macht?« Eine zweiundvierzigjährige Frau, die für Delfine schwärmt, Herrgott noch mal? Da Fraser jedoch deutlich
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