Kleine Luegen erhalten die Liebe
den letzten Tagen war Mia jedoch immer ärgerlicher geworden und hatte begonnen, Fraser Morgan in einem neuen, nicht sehr schmeichelhaften Licht zu sehen. Er erlaubte sich zu viel, genau das tat er! Er gab seinen Dämonen zu leicht nach. Für ihn war es in Ordnung: Fraser konnte sich bis zur Besinnungslosigkeit betrinken, wie ein Vollidiot umherirren, sein Hemd auf dem Highway ausziehen oder nackt auf der Motorhaube eines geparkten Wagens stehen, wenn er wollte – wie in Angst und Schrecken in Las Vegas und dergleichen. Ihm war sogar zuzutrauen, dass er diesen Film im Kopf gehabt hatte, als er am Telefon getobt, gewütet und solch wirres Zeug dahergeredet hatte. Fraser konnte ein hochdramatisches kleines Aassein, samt Opferhaltung und allem Drum und Dran. Ja, es war verdammt ärgerlich, fand Mia.
Aber Tatsache war, dass sie beide die Schuld jener Nacht, die Last des Nichtwissens, was wirklich geschehen war, und die Frage nach dem »Was wäre, wenn?« zu tragen hatten.
Der Unterschied war, dass Mia sich nicht erlauben konnte auszuflippen. So sehr sie sich auch manchmal danach sehnte, auszugehen, um die Häuser zu ziehen und tagelang nicht heimzukehren, sie konnte es einfach nicht. Da war ein Baby, das versorgt werden musste, und jetzt offenbar auch noch eine verrückte alte Dame. Anders als Fraser, durfte sie, Mia, sich ihren inneren Dämonen nicht ergeben; sie durfte ihre Gedanken nicht in Strömen von Alkohol ertränken – obwohl sie sich gelegentlich nach Kräften darum bemühte.
Und anders als Fraser neuerdings, bemühte sie sich auch, die Dinge nüchtern zu betrachten und sich in Erinnerung zu rufen, was für eine Art von Mensch ihre Freundin wirklich gewesen war.
Verdammt noch mal, selbst wenn Liv gesehen hätte, wie sie sich geküsst hatten, hätte sie eine Erklärung von ihnen verlangt, aber sich doch nicht vom nächsten Balkon gestürzt! Liv war pragmatisch gewesen – und gerade deshalb hatte sie Fraser gutgetan.
Doch jetzt gab es sie nicht mehr, und kein noch so dramatisches Gejammer am Telefon würde sie zurückbringen. Aber selbst an diesen schlimmen schwarzen Tagen, die Mia das Gefühl zu geben schienen, bleischwer und nicht existent zu sein, als könnte sie bis zum Meeresgrund hinuntersinken und niemand würde es bemerken, konnte sie nicht aufhören, wütend zu sein, oder die schreckliche, quälende Ungerechtigkeit von alldem vergessen. Manchmal war sie sogar ärgerlich auf Liv: Warum musstest du gehen?
Sie blickte zu Mrs. Durham hinüber – all ihr Gerede über Tod, Begräbnisse und Verfall waren Mia auch nicht gerade eine Hilfe. Und das Meer, diese riesige, unergründlich tiefe Fläche Wasser, sorgte ebenfalls dafür, dass sie sich einsam, wehrlos und unterlegen fühlte. Keiner würde je erfahren, wie Liv es angestellt hatte, von dem Balkon zu fallen, weil keiner sie hatte fallen sehen – Liv war allein gewesen. Aber Herrgott noch mal, wenn man das Gleichgewicht verlieren konnte, von einem Balkon stürzen und auf diese Weise sterben konnte, wenn man für einen winzigen Moment nicht aufpasste und es einen das Leben kostete, was war dann der verdammte Punkt? Dass das Leben im Grunde doch nur ein Tropfen Wasser im Ozean war.
Gott, hörte sie sich makaber an – und verrückt!
Man liebte Menschen, und dann starben sie. Billy bildete da keine Ausnahme. Eines Tages würde auch er nicht mehr sein. Vielleicht hatte Mrs. Durham ja doch die richtigen Vorstellungen …
»Wissen Sie, wir waren gute Freundinnen, Barbara und ich – doch das hätten Sie nie gedacht, was? Nicht, nachdem sie mich in den letzten Jahren so behandelt hat.«
Mia setzte ein Lächeln auf und wandte sich Mrs. Durham zu. »Jetzt regen Sie sich doch nicht so auf, Maureen!« Mia begann, das Geschirr abzuräumen. »Auch wenn Barbara nicht persönlich da war, heißt das doch noch lange nicht, dass sie nicht bis zum Ende Ihre Freundin war! Sie wäre sicher sehr beschämt, wenn sie Sie so reden hören könnte.«
Und außerdem darf das doch nicht wahr sein, du herzlose alte Frau! Wie kannst du jemandem etwas nachtragen, der schon tot ist? Wie kannst du jemandem nicht verzeihen, der an Krebs gestorben ist? Manchmal stellte Mrs. Durham Mias Geduld wirklich auf eine harte Probe.
Mrs. D. hatte Jahre gehabt, um Barbara zu sagen, was sieihr sagen wollte – Jahre, um ihr zu verzeihen und selbst das Telefon in die Hand zu nehmen, um sie anzurufen. Mia hatte keine Chance gehabt, ihrer besten Freundin noch etwas zu sagen. Nichts zum
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