Kleine Luegen erhalten die Liebe
Knöcheln und dem knitterfreien Rock ein wenig deplatziert wirkte auf den pinkfarbenen Lederbänken. Aber trotz Mias vieler Vorschläge, woandershin zu gehen, beharrte sie darauf.
Und im Grunde störte es Mia auch nicht. Immerhin war der Ausblick bei einsetzender Flut und an einem schönen Tag wie heute geradezu spektakulär: meilenweit nur funkelndes blaues Wasser, hier und da ein bunt gestrichenes, träge auf den Wellen tanzendes Fischerboot und das grüne, hügelige Grange-over-Sands auf der anderen Seite der Bucht.
»Noch etwas Tee, Mrs. D.?«, fragte Mia ein bisschen übertrieben munter, doch Mrs. Durham war an diesem Morgen auf einer Beerdigung gewesen – der dritten in ebenso vielenMonaten –, und Mia lag sehr daran, sie von diesem Thema abzubringen. Allerdings war sie bisher nicht allzu erfolgreich damit gewesen.
Seit fünf Monaten kümmerte Mia sich dienstags um Mrs. Durham, um ein bisschen zusätzliches Geld zu verdienen und sich eine Auszeit von Billy zu gönnen. In dieser Zeit war sie zu dem Schluss gekommen, dass Begräbnisse für Maureen Durham ein klein wenig so wie Taufen für kinderlose Singles um die dreißig waren: die einzigen Gelegenheiten, bei denen sie ihre Bekannten heutzutage zu sehen bekam, und Anlässe, denen sie freudig, aber auch mit einer Art genüsslichem Märtyrertum entgegensah.
»Können Sie sich das vorstellen, Mia? Ich muss schon wieder zu einer Beerdigung!«, pflegte sie zu sagen. Dabei freute sie sich in Wirklichkeit auf ein Schwätzchen und ein bisschen hintergründige Kritik (Mrs. D. verstand sich sehr gut auf feine Ironie; sie war der Inbegriff der passiv-aggressiven Frau), und sie verschmähte auch den Kuchen nicht, der bei solchen Anlässen gereicht wurde. Außerdem schien sie ihre helle Freude daran zu haben, Mia zu erzählen, welcher ihrer Freunde in dieser Woche den Löffel abgegeben hatte – als wollte sie sagen: Ich werde die Nächste sein! Merken Sie sich meine Worte! Sie wissen ja, dass ich krank bin. Mia erhielt langsam den Eindruck, dass die Teilnahme an Beerdigungen für Mrs. D. nur eine Gelegenheit für sie war, an den Plänen für ihre eigene zu feilen: Von dem Sarg hielt sie nicht viel, die Choräle waren ganz nett, aber es war viel zu viel Mayonnaise auf den Eier-Mayonnaise-Brötchen.
Mrs. Durham senkte den Kopf und gab ungeniert einen leisen Rülpser von sich. »Tja, da haben wir wieder mal eine hinter uns«, bemerkte sie, als Mia ihr Tee einschenkte.
Sie waren die einzigen Gäste im Café, da der Mittagsansturm längst vorüber war, und für eine Weile saßen sie in kameradschaftlichem Schweigen da, das nur von dem wehmütigen Geschrei der Möwen und einem gelegentlichen Aufstoßen Mrs. Durhams unterbrochen wurde, und beobachteten die einsetzende Flut.
Wenn Mia ehrlich sein sollte, konnte sie erst seit Kurzem wieder die Aussicht auf das Meer ertragen, ohne von einem Platzangst erregenden Gefühl erfasst zu werden, als würde sie von der See verschlungen. Alles, was sie noch Monate nach Livs Tod hatte sehen können, wenn sie auf irgendeine Wasserfläche geblickt hatte, war die Aussicht von ihrem Ferienhaus in jenem Sommer – dem Sommer 2006 auf Ibiza. Ein glitzerndes Band am Horizont war vermutlich das Letzte, was Liv gesehen hatte, als sie im ersten grauen Tageslicht fast zehn Meter tief auf den Asphalt hinuntergestürzt war. Was hatte sie dabei gedacht? War sie an jenem Morgen glücklich gewesen? Hatte sie Angst gehabt? Mia hoffte, dass sie zu betrunken gewesen war, um überhaupt etwas zu denken oder zu spüren. Wie traurig, dass dies der einzige Wunsch war, den sie für ihre sterbende Freundin hatte: nicht die Hoffnung, dass sie bei den Menschen war, die sie liebte.
Eigentlich hatte Liv das Meer geliebt. Nichts hatte ihr mehr Freude bereitet als ein Tagesausflug zu einem dieser spießigen Küstenorte wie Blackpool, Fleetwood oder Southport; sie hatten als Studenten alle abgeklappert. Liv hatte etwas von einer alten Dame gehabt, die mit einer Decke über den Knien fernsah oder gern zu Tee und Kuchen in irgendeinem Küstenkaff haltmachte. »Oooh, das ist wundervoll! Ist das nicht fabelhaft?« Sie steckte voller drolliger, altmodischer Schwärmerei. Liv hatte aber auch einen ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb und wusste sich und anderen zu helfen, was die Art, wie sie zu Tode kam, umso schockierender machte. Und eigentlichabsurd, ja lächerlich, dachte Mia in ihren zornigeren Momenten. Livs Tod war fast schon wie ein Tod aus einer schwarzen
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