Abschied, keine letzten Worte. Am Abend zuvor hatten sie sich eine Stunde über Avocados gezankt – eine ganze Stunde! Mia hatte behauptet, sie machten dick, es spiele keine Rolle, ob sie »gutes Fett« hatten oder nicht, Kalorien blieben Kalorien. »Das ist das Ignoranteste, was ich je von dir gehört habe!«, hatte Mia entgegnet: »Wie kann etwas so Gesundes dick machen?«
Sie waren nicht mehr dazu gekommen, der Sache auf den Grund zu gehen.
Gott, wie Liv ihr fehlte! Oft geschah es nicht mal während der großen Anlässe, in den wichtigen Momenten, dass sie sie vermisste, sondern bei unerwarteten und scheinbar unbedeutenden Gelegenheiten, wie jetzt in diesem neuen Hotel, in dem sie mit einer verrückten alten Frau Tee trank, die völlig ungeniert rülpste, wenn ihr danach zumute war. Liv würde das urkomisch finden. Wie gern hätte Mia Liv von Mrs. Durham und ihrem erstaunlich gutturalen Rülpsen erzählt! Vor einer Woche hatte sie ihr erzählen wollen, dass sie wieder mal in völlig unpassenden Schuhen aus dem Haus gegangen war oder dass Billy sich schon auf die Nase zeigte, wenn man »Nase« sagte.
Manchmal vergaß Mia sogar, dass ihre Freundin nicht mehr lebte, und schrieb ihr eine E-Mail, nur um sich dann plötzlich zu erinnern, dass es
[email protected] nicht mehr gab. Sie weilt nicht mehr unter uns auf dieser Erde , wie während des Begräbnisses gesagt worden war. Und wo war sie dann? Wo war alles, was sie gesagt, gefühlt und worüber sie gelacht hatte?
Mia fragte sich, wann sie zu diesem Menschen gewordenwar, der nur noch zurückblickte. Sie hatte neulich einen Artikel in einer der Sonntagsbeilagen gelesen, zu deren Lektüre sie sich hin und wieder zwang, um nicht völlig zu verblöden. Es war ein Interview mit einer afrikanischen Dichterin (Mia hatte einen Post-it-Zettel an den Kühlschrank geklebt, um nicht zu vergessen, irgendwann ihre Anthologie zu kaufen), die sagte, sie glaube, dass man als junger Mensch nach vorne schaute und als alter Mensch zurückblickte – und man nur im mittleren Alter eine Art peripheres Sehen habe. Wenn das so war, war Mia bereits alt. Auf jeden Fall fühlte sie sich mit neunundzwanzig schon so alt wie Mrs. D.
Nachdem sie ihren Tee getrunken und ihr Gebäck gegessen hatten, stieg Mia mit Mrs. Durham in den Bus und brachte sie nach Hause. Dann machte sie sich auf den Weg zur Kita, um Billy abzuholen, und schnallte ihn im Kinderwagen an. Und plötzlich, als sie mit ihm den Hügel hinunterging, erwachte wieder dieses komische, beängstigende Gefühl in ihrem Magen, wie leicht, wie einfach es doch wäre, einfach loszulassen. Dann wäre alles vorbei. Aus und vorbei.
KAPITEL ZEHN
Damals
Es war nach jenem denkwürdigen Abend in Frasers, Melodys und Norms Studentenbude mindestens ein Monat vergangen, bevor sie Fraser wiedersah. Ein Monat, seit sie der Übernahme von Sara Moussakas »Krone«, um Mia Moussaka zu werden, gerade noch entkommen war. Die Weihnachtsfeiertage waren gekommen und gegangen, und Mia hatte sie deprimiert, beschämt und gekränkt daheim in Chesham verbracht.
Sie hatte gedacht, ja gehofft , dass es ein Date war, hatte wochenlang ihr Outfit geplant, und Fraser hatte es nur als Möglichkeit gesehen, bei seiner guten Freundin frech zu werden?
Die gute alte Mia, immer für einen Spaß zu haben. Oder einen Kuss. Ha! Was sie anging, konnte Fraser zum Teufel gehen! Sie würde ganz bestimmt nicht seine Bettgefährtin werden. Das hatte noch nie bei ihr auf dem Programm gestanden.
Das Schlimmste war, dass sie weder mit Anna noch mit Liv darüber reden konnte, weil es ihr viel zu peinlich war. Sie hatten sie ohnehin schon gnadenlos mit ihren und Frasers kleinen Einkaufstrips zum Großhandelsmarkt Asda aufgezogen.
»Ihr geht schon wieder shoppen? Ja, natürlich tut ihr das, Woodhouse! Euch im Taxi in Stimmung bringen, fummeln zwischen den Tiefkühltruhen, PETTING AN DER GEFLÜGELTHEKE?« Ihre »rasend komischen« Spitzen hatten keine Grenzen gekannt.
Natürlich schüttelte Mia den Kopf und verdrehte die Augen, doch insgeheim hatte sie vermutet, dass sie vielleichtnicht völlig unrecht hatten. Vielleicht stand Fraser auch auf sie? Er müsste doch eigentlich auch die sexuelle Spannung zwischen ihnen spüren, so elektrisierend, wie sie war! Vor allem die Rückfahrten im Taxi, wo nur zwei Riesentüten Reis ihre Hände davon abhielten, sich zu berühren, wurden langsam mehr, als Mia ertragen konnte.
Aber während sie von einer gemeinsamen Zukunft zu