Kleine Luegen erhalten die Liebe
sich mit ihren wahren Freunden verstehen würde. Heute sah sie zum ersten Mal alle wieder, seit sie ihnen erzählt hatte, dass sie und Eduardo wieder zusammen waren, und die Neuigkeit hatte nicht gerade Begeisterung bei ihnen ausgelöst. Außerdem würde ihre Mutter jeden Moment erscheinen. Gott, ihr würde noch der Kopf platzen!
Aber ich muss die Zügel in der Hand behalten, ermahnte sie sich, während sie weiter Möhren schnippelte. Heute war nicht der Tag für eine Existenzkrise. Wie auf ein Stichwort hin rutschte Billy auf seinem Po von der anderen Seite der Küche herüber und warf die Arme in die Luft, als wollte er sagen: Heb mich auf!
Der Kleine beherrschte noch nicht ganz die Kunst des Gehens, und Mia war ganz froh, es noch ein Weilchen aufschieben zu können, wenn nicht gar für ein paar Jahre. Warum alle so versessen darauf waren, dass ihre Kinder laufen lernten, würde sie wohl nie verstehen. Machten sie nicht schon Arbeit genug, ohne auch noch mobil zu sein?
Nachdem sie das erst kürzlich gesagt hatte, hatte sie heute mehr das Gefühl, dass ein Kind zu haben alle Mühen wert war. Als sie schwanger gewesen war und bei Primal Films gearbeitet hatte, hatte sie ihre Freundin Maxine gefragt, was all das Getue solle und was so gut daran sei, ein Baby zu bekommen? Maxine hatte sie angesehen, als wäre sie verrückt, und Mia war sehr beschämt gewesen, weil sie offenbar absolut nichts Mütterliches hatte. »Du liebst sie einfach über alles«, hatte Maxine mit feuchten Augen erwidert. »Und sie lieben dich, und das ist so schmeichelhaft.« Mia hatte das nie erlebt; so beeindruckt hatte Billy nie gewirkt. Oft sah er sogar ein wenig erleichtert aus, wenn jemand anderes kam, um sich um ihn zu kümmern. Seit einem Monat weinte er jedoch manchmal, wenn sie aus dem Zimmer ging, und obwohl Mia dann die Augen verdrehte und sagte: »Ach, komm schon, Billy …«, war es doch ein sehr schönes Gefühl und irgendwie auch wirklich schmeichelhaft.
Mia hob Billy auf. »Hallo, Geburtstagskind, mein kleinerFreund!« Sie entfernte das kleine Stückchen Ei an seinem Revers. Melody hatte ihm etwas Besonderes zu seinem ersten Geburtstag schenken wollen, und da Mia nicht gerade gut bei Kasse war, hatte sie nicht protestiert. Allerdings bereute sie diese Entscheidung jetzt, als sie ihren einjährigen Sohn in seinem Nadelstreifenanzug mit Krawatte sah.
»Was hat Tante Melody bloß mit dir angestellt?«, fragte sie und küsste ihn auf die Stirn. »Dich zu einem Ebenbild von William Hague gemacht?«
Sie sah den Kleinen naserümpfend an, worauf er zu kichern begann, als lachte er über ihren Scherz, und wie so oft in letzter Zeit bekam sie wieder das Gefühl, als dehnte sich etwas in ihrer Brust und Kehle aus, für das nicht genügend Platz da war und das ihr den Atem stocken ließ.
Dann klingelte es – ihre Mutter! Mia machte sich innerlich auf Enttäuschungen gefasst, weil das nach achtundzwanzig Jahren Erfahrung klüger war.
Billy auf der Hüfte, schlurfte sie in ihren Hüttenschuhen zur Tür und setzte eine Miene auf, die sie für ihre beste, ruhigste und souveränste hielt.
Lynette Forrest (Forrest war der Mädchenname ihrer Mutter, die ihren Nachnamen so oft geändert hatte, dass Mia längst den Überblick verloren hatte) war fast von Kopf bis Fuß mit Kleidungsstücken mit Tiermotiven angetan und hatte einen riesigen, in blauer Geschenkfolie verpackten Karton mit einer gigantischen blauen Schleife vor ihren Füßen stehen. Ihr blondes Haar hatte sie zu diesem Anlass zu einem schicken, glatten Bob föhnen lassen, und wieder mal verfluchte Mia sich im Stillen. Warum hatte sie selbst es nicht wenigstens geschafft, etwas Vernünftiges anzuziehen?
Lynette streckte die Arme nach Billy aus. »Und wie geht es meinem süßen kleinen Geburtstagskind?«
Billy drückte das Gesicht an Mias Nacken, und sie verdrehte die Augen, als wollte sie sagen: Gott, wie anhänglich …
»Du wirst deine Omi lieben!«, rief Lynette, schob Mia mit dem riesigen Karton zur Seite und hüllte sie in eine Wolke ihres süßlichen Parfums ein. Als sie ihren Enkel küsste, hinterließ sie Lipgloss an seiner Wange, und Billy wäre fast vor ihr zurückgezuckt, mehr wegen der überwältigenden Duftwolke als aufgrund einer persönlichen Abneigung gegen seine Großmutter. Mia fühlte sich trotzdem genötigt, ihn in Schutz zu nehmen. »Er ist ein bisschen übermüdet, Mum, aber du weißt ja, der Geburtstag und das ganze Drum und Dran …«
Lynette
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