Kleine Luegen erhalten die Liebe
Eduardo!«
»Du liebe Güte, worüber streitet ihr zwei?« Lynette regte sich jetzt auf dem Rücksitz. Sie hatte noch keine Minute die Augen offen und trug schon Lipgloss auf.
»Tut mir leid, Mum«, sagte Mia schlecht gelaunt. »Wir sind ohnehin fast da …« Sie fuhr den Hügel hinauf und bog zum Lancaster-Bahnhof ab – einem hübschen, altmodischen Sandsteingebäude, wo sie ihre Mutter absetzen würde, damit Lynette sogleich den Speisewagen aufsuchen und mit den Mini-Flaschen von Blossom Hill beginnen konnte.
Lynette kam nie, um über Nacht zu bleiben, weil sie angeblich »unausstehlich« war, wenn sie nicht ihre acht Stunden Schlaf bekam.
Es lohnte sich nicht, auch nur darüber nachzudenken.
Mia zog den Schlüssel aus dem Zündschloss, um den Kofferraum zu öffnen.
»Also sagt schon, worum geht es bei all dem Geschrei?«, wollte Lynette wissen. »Das interessiert mich nämlich, nachdem ihr mich damit geweckt habt.«
Eduardo starrte aus dem Fenster.
»Ach, es ist nur so, dass er ausgehen will«, sagte Mia und wies mit dem Kopf auf Eduardo. »Was keine große Sache ist. Ich dachte nur, da er den ganzen Tag schon draußen war, würde er nach Hause wollen, um mit uns zusammen den Rest von Billys Karten und Geschenken zu öffnen und mit mir ein Glas auf unseren Sohn zu trinken.«
Lynette seufzte. »Du bist zu streng mit ihm, Mia Saffron.« Mia erschauderte bei der Erwähnung ihres fürchterlichen zweiten Vornamens. »Kinderpartys sind wirklich ganz schön anstrengend, weißt du …«
Mia stieg aus dem Wagen, bevor sie sich zu etwas hinreißen ließ, das sie später bereuen würde. »Okay, Mum, vielen Dank, dass du gekommen bist!« Sie zerrte Lynettes Trolley aus dem Wagen und steuerte ihre Mutter auf die automatischen Bahnhofstüren zu. »Ich wünsche dir eine gute Heimreise, Mum. Billy und ich werden dich bald einmal besuchen.«
Mia stand im Schutz des Eingangs und trat näher, um ihrer Mutter einen Kuss zu geben, doch Lynette hielt sie zurück.
»Glaub mir, ich weiß sehr gut, wie es ist, allein zu sein«, sagte sie plötzlich. »Ich war auch allein, als ich dich bekam, oder hast du das vergessen?« Mia konnte sich nicht erinnern, je mit ihrer Mutter allein gewesen zu sein, aber egal … »Und weißt du, was ich dir raten würde?«, fuhr Lynette fort und beugte sich vor, um Mia ins Ohr zu flüstern: »Gib dir Mühe, ihn zu halten, weil es nämlich sehr viel leichter ist zu zweit, auch wenn er ein bisschen blöd ist! Trotzdem ist es finanziell und zeitlich sehr viel einfacher. Das kann ich dir aus eigener Erfahrung sagen. Und er ist ja nur ein ganz normaler Typ, Mia. Sie sind schließlich alle gleich, mein Schatz.«
Und damit küsste sie Mia aufs Haar und wankte auf ihren Stöckelschuhen mit Zebramuster davon, ihres Katers wegen nicht mehr ganz so sicher auf den Beinen. Mia sah ihr nach. »Gott, was für eine verrückte Mutter!«, murmelte sie vor sich hin.
Dann rannte sie durch den Regen zu ihrem Wagen.
»Geh ruhig aus!«, sagte sie beim Einsteigen. »Am Pascha lasse ich dich raus.«
♥
Nachdem sie dreimal die Treppe zu ihrem Apartment hinauf- und wieder hinuntergestiegen war, Billy unter dem einen Armund endlose Tupper-Dosen und Geschenke unter dem anderen, war Mia endlich zu Hause.
In der Wohnung war es warm, und wie augenblicklich fast alles in ihrem Leben roch sie leicht nach Beuteln mit schmutzigen Windeln und hart gekochten Eiern.
Mia schaltete das Licht an und lehnte sich einen Moment an den Türrahmen, um wieder zu Atem zu kommen.
»Was tue ich, Olivia?«
Es kam nicht oft vor, dass sie das Bedürfnis hatte, so zu Liv zu sprechen – außer natürlich auf der Bank im Park. Es war nicht so, als spürte sie Livs »Gegenwart«, denn Mia hatte nichts am Hut mit all diesem übernatürlichen Zeug. Das war früher Annas Ding gewesen; sie hatte immer behauptet, sie hätte nachts Besuch von Liv gehabt oder ihr Parfum gerochen. Nein, Mia war kein bisschen überrascht, dass die Vorhänge jetzt nicht flatterten, dass nichts aus dem Regal fiel und zerbrach und niemand antwortete. Es war nur so, dass sie sich manchmal, vor allem, wenn sie nicht wusste, ob sie die richtige Entscheidung traf, an Liv wandte – als wäre sie ihr Gewissen. In diesem Moment, nachdem sie gerade mal wieder den Weg des geringsten Widerstandes gegangen war, konnte sie sich vorstellen, dass Liv alles andere als beeindruckt wäre.
Mia ging zum Fenster hinüber. Es hatte aufgehört zu regnen und wurde wieder heller, das
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