Kleine Luegen erhalten die Liebe
Leben hatten! Doch dann sah sie Billys kleinen runden Bauch, der voller Miniwürstchen und Geburtstagskuchen war, und seinen konzentrierten Gesichtsausdruck, mit dem er sein wasserdichtes Buch umblätterte. »Aber ich habe dich«, sagte sie laut und war selbst erstaunt darüber, wie ernst es ihr mit diesem Gedanken war.
Um acht schlummerte Billy ein – ein wahres Wunder, nachdem er im Wagen schon geschlafen hatte –, und Mia stieß triumphierend die Fäuste in die Luft, als sie sein Zimmer verließ. Sie öffnete eine Dose Bier, drehte sich eine wohlverdiente Zigarette und lehnte sich halb aus dem Fenster, um sie zu rauchen und zuzusehen, wie die Gewitterwolken nach und nach von der Sonne aufgelöst wurden.
Unruhig und innerlich ganz hohl nach diesem Tag, wusste sie nicht recht, was sie mit sich anfangen sollte. Eine Zeit lang tigerte sie von Raum zu Raum – was sie zu Anfang sehr oft getan hatte – und drückte ihren nackten Arm an ihr Gesicht wie eine Art trostspendende Decke.
Dann ging sie ins Schlafzimmer, legte sich aufs Bett und nahm geistesabwesend das Foto von ihrem Nachttisch zur Hand. Es zeigte sie alle auf Melodys und Norms Hochzeit heute vor drei Jahren. Wie viel sich in dieser Zeit verändert hatte! Mia setzte sich auf und trank ihr Bier, während sie lächelnd das Bild betrachtete. Melody, eine Vision in einembauschigen weißen Tüllkleid, mit gebräuntem Busen (Selbstbräuner), blonden Locken, Schleier und einem Kopfschmuck, der weniger ein Diadem als vielmehr eine Krone war. Sie, Liv und Anna in ihren zitronengelben Brautjungfernkleidern im Empirestil und die Jungs – mein Gott, wie dünn sie alle aussahen! –, die unbehaglich in ihren bei Moss Brothers gemieteten Anzügen herumstanden. Fraser und Liv schienen eine Art gemeinsame Fußbekleidungs-Funktionsstörung zu haben: Liv trug die Yeti-Flipflop-Kombi, und Fraser hatte seine Schuhe sogar ganz vergessen und deswegen seine Trainingsschuhe tragen müssen. Liv war entsetzt gewesen. Aber eigentlich hatte es nichts ausgemacht; sie hatten sich alle fröhlich betrunken, und es war ein Tag voll grenzenloser Freude und Glück gewesen.
Das nächste Mal, dass sie ihre Freunde in Anzügen gesehen hatte, war bei Livs Beerdigung gewesen.
So viel hatte sich verändert! Heute, als sie neben Norm gesessen und seinen Gesichtsausdruck gesehen hatte, mit dem er den Bemühungen seiner Frau zugehört hatte, Fiona eine Gemüsezerkleinerungs-Maschine anzudrehen, hatte Mia nicht umhingekonnt, sich an die Nachmittage zu erinnern, die Melody und Norm mit ineinander verschlungenen Armen und Beinen auf dem Sofa in der South Road verbracht hatten.
Und Fraser, der liebe, wunderbare Fraser! Mia wurde plötzlich von dem bedrückenden Gefühl ergriffen, dass alles vorbei war. Heute hatte sie ihn mit Billy auf dem Schoß gesehen, und während er mit Norm sprach, hatte er geistesabwesend dem Kleinen das Bein gestreichelt. Fraser hatte nie sehr gut mit Babys umgehen können, nicht wie Norm, der – paradoxerweise – diese Gabe hatte. Doch bei den wenigen Gelegenheiten in den letzten Monaten, bei denen Fraser sich mit Billy beschäftigt hatte, war er fasziniert, aber ängstlich gewesen, als wäre der Kleine etwas sehr Kostbares, das er nicht zerbrechen wollte.
Mia wusste, dass Fraser Kinder wollte. Sie hatten nie darüber gesprochen, doch an seiner Körpersprache war es deutlich zu erkennen. Und falls er mit Karen zusammenblieb, würde das nie geschehen. Was kein Problem wäre, wenn Karen seine große Liebe wäre, aber Mia bezweifelte, dass es so war. Deshalb würde er nur seine Zeit verschwenden, und Zeitverschwendung war das, was sie für ihre Freunde am meisten fürchtete. Denn während sie früher genug Zeit zu verschwenden gehabt hatten, war sie heute nicht mehr sicher, ob sie sich das überhaupt noch leisten konnten.
Entschlossen, ihre Verdrossenheit zu überwinden, setzte Mia sich auf und schaute auf die Uhr: zwanzig Uhr dreißig. Eduardo müsste in einer halben Stunde zurück sein, aber aus Erfahrung wusste sie, dass das eher unwahrscheinlich war. Deshalb stand sie auf, holte Papier und einen Stift, um sich für die Dankeskarten zu notieren, wer Billy was geschenkt hatte, und begann mit den noch ungeöffneten Briefen und Geschenken auf ihrem Wohnzimmerteppich.
Darunter war eine reizende Karte von Tante Gill und Onkel Dave:
Lieber William (Mia hatte ihnen bereits gefühlte hundert Mal gesagt, dass er nur schlicht und einfach Billy hieß, doch davon
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