Kleine Portionen
Horizont auf. Einmal fahren wir an einem langen Rapsfeld vorbei, das gelb und sonnig im Tageslicht aufleuchtet. Ein Schwarm schwarzer Vögel hebt in einer harmonischen Welle ab, fliegt ein paar Meter und setzt sich wieder aufs Feld.
Die erste Version des Haiku geht wie folgt:
Gelbes Feld, Krähen
wellen auf im Blütenwind …
nass wölkt sich das Blau
Dann mache ich eine zweite Version:
Sonngekrönter Raps
biegt sich, Frühling krächzt und seufzt –
zwei Strahlen blinken
Der Kirschbaum
Nach einer Tasse Kaffee und einem großen Stück Rhabarberkuchen beschließe ich, mit dem Hund einen Spaziergang zu machen. Seb ist beim Auspacken und plaudert mit seiner Mutter.
Nina und ich gehen an der bröckelnden, alten Kirche vorbei und die Straße entlang, die schnurgerade läuft und dorfauswärts durch den Wald auf die Felder und zum Ententeich führt. Alles ist ruhig, alles scheint vor sich hin zu dösen, nur die Natur ist hellwach. Vögel singen, Insekten summen und brummen und surren im Unterholz. Junge Bäume stehen zu beiden Seiten der Straße, alle in Blüte. Weiße Blüten und hellrosa Blüten und weiß-rosa Blüten, und auf einigen Bäumen blutrote Blätter.
In der Nähe des Ententeichs steht ein Kirschbaum. Eine sanfte Brise schüttelt seine überfüllten Zweige, und er lässt seine wei ß en Blüten fallen, die traumähnlich und langsam, langsam niederrieseln, magischen Frühlingsschneeflocken gleich in der Luft baumeln, bevor sie weiter nach unten schweben. Die Spannung der letzten Tage löst sich auf. Ich fühle mich heiter und ruhig und berühre mit meiner ausgestreckten Seele so etwas wie Glückseligkeit.
Ja, das ist Glückseligkeit für Dummies. Ein blühender Kirschbaum, der seine weißen Blütenblätter abschüttelt, ein fröhlich herumspringender Hund, eine einsame Straße, die zwischen jungen, blühenden Bäumen zu einem Ententeich führt, ein leicht wolkiger, hellblauer Himmel, ein warm-sanfter Wind und Kirchenglocken, die in der Ferne läuten.
Die französischen Ardennen
Hinter dem Dorf liegen Raps- und Getreidefelder. Wir wandern einen steilen Hügel hinauf. Der Hund tollt im hohen Gras herum, Bienen und Fliegen und Hummeln summen und surren und dröhnen um unsere Köpfe. Der Himmel ist verschleiert und sieht so aus, als ob Regen ihn reizen könnte; die Temperaturen bleiben angenehm.
Kühe grasen friedlich in den sanft hügeligen Wiesen. Niedrige Bäume in voller Blüte sowie üppige Brombeersträucher grenzen den ländlichen Hohlweg ein, der sich zwischen den Feldern den Hügel hinaufwindet. Dann kommt der Wald. Wir folgen dem schmalen Pfad, unsere Schritte federn über den elastischen Boden aus Erde und Tannennadeln. Der Weg führt geradewegs mitten in den Wald hinein. Ein einheimischer Naturforscher hat im 19. Jahrhundert Saatgut aus der Neuen Welt zurückgebracht und hier eingepflanzt. Dadurch gleicht der Weg heute einer Kathedrale, einem Kirchenschiff, in dem Douglasfichten die Säulen ersetzen. Sie stehen stattlich und königlich und unbekümmert da. Das Licht ist trüb und grün, mit schrägen Strahlen, die ihren Weg durch das dichte Laub finden. Man hört Vögel zwitschern und hoch über unseren Köpfen streiten. Im Unterholz scheint sich einiges abzuspielen, da kratzt und scharrt und raschelt und knistert es.
Während Sebs Mutter fröhlich über das Dorfleben der letzten Monate plaudert, bleibe ich zurück, um die üppige Natur zu beobachten. Und den Hund. Nina läuft im Zickzack vom Stamm einer Douglasfichte zum nächsten, beschnuppert ihre Rinde sowie die Zapfen, die auf dem weichen, moosigen Boden herumliegen. Der Wald, eines der schönsten Jagdgebiete Frankreichs, ist voll regen Treibens. Jedes Mal, wenn ich diesen Weg entlanggehe, spüre ich, wie zahllose Lebewesen kurz ihren Kopf heben und mich desinteressiert anblicken, bevor sie ungerührt in ihrer Existenz fortfahren.
Der Wald fühlt sich wie eine mütterliche Umarmung an. Um mich herum grüne und braune und himmelblaue Flecken, die relativ stille Natur, die unnatürlich hohen Douglasfichten – ich komme mir klein und unbedeutend vor. Ein gut gelittener, aber unwichtiger Eindringling. Eine Ahnung von verborgenen Zwecken, stillen Plänen liegt in der Luft. Eine Ahnung von einer Welt, die ohne mich existiert, meiner ungeachtet, ohne mich zu brauchen. Das ist ein beruhigendes Gefühl. Ich seufze wonnig.
Dann schließe ich wieder mit Seb und seiner Mutter auf. Und höre mir die Geschichte von der 77-jährigen
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