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Kleine Portionen

Kleine Portionen

Titel: Kleine Portionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Moitzi
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Nachbarin an, die vor zwei Wochen Selbstmord begangen hat.

Versuchung
     
    Die Versuchung fiel in der Métro über mich her. Der große Streik, der fast einen Monat gedauert hatte, ging seinem Ende zu; die öffentlichen Verkehrsmittel begannen langsam wieder zu funktionieren. An jenem Morgen war der Bahnsteig in der U-Bahn schwarz vor Menschen. Ich blieb vor einem jungen Mann stehen, der mir einen tiefen Blick zuwarf. Er zwinkerte und versuchte zu lächeln. Dann fuhr die U-Bahn ein, und der Kampf ums Überleben begann. Da Pariser eine natürliche Abneigung gegen Disziplin haben, stiegen viele Leute aus dem Zug aus, während viele andere Menschen versuchten, hineinzukommen, und das alles natürlich gleichzeitig. Die Szene sah aus wie ein Schlachtfeld. Vornehme, schlanke Frauen in Chanel-Kostümen kreischten Buchhalter in teurem Grau an, welche jovialen Seniorbankern ihre Ellbogen in die Rippen stießen, die wiederum schwarze Mädchen mit Dreadlocks anbellten, welche ihrerseits andere schupsten, die wieder andere schupsten, die dann wieder wen anderen anrempelten …
    Ich schaffte es, mich kurz vor dem Schließen der Türen ins Abteil zu quetschen. Hinter mir der junge Mann vom Bahnsteig. Die U-Bahn fuhr los. Und sofort spürte ich eine warme Hand, die wie durch Zufall meinen Hintern berührte. Ich konnte mich nicht umdrehen, ich konnte mich nicht bewegen, und die Hand grapschte weiter, begann zu streicheln und zu kneten. Die U-Bahn war so voll, dass niemand etwas davon mitbekam. Hunderte von Menschen standen um uns gepresst. Und dennoch hatte ich das Gefühl, wir wären allein.
    Lust schoss in mir hoch wie eine Rakete. Blut strömte durch meinen Körper, mein Herz klopfte, eine Schweißperle bildete sich auf meiner Stirn. Ich fühlte, wie der junge Bursche die Hand zurückzog, bevor er seinen ganzen Körper an mich drückte. Er war erregt, rieb sich gegen mich. »Das ist ja Wahnsinn!« dachte ich. »Das ist so was von nicht in Ordnung!« dachte ich. Aber wie konnte sich etwas gleichzeitig so gut und so schlecht anfühlen?
    Ich stolperte endlich aus der U-Bahn; mir war beinahe schwindlig vor Lust. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass ich einige Stationen zu früh ausgestiegen war; ich eilte nach draußen, wo ich meine Lungen mit eisiger Winterkälte füllte.
    Als ich mich umdrehte, stand der junge Mann vor mir, keuchend, aber lächelnd.
    »Ich bin Samuel«, sagte er und streckte mir seine Hand entgegen. Ich schüttelte sie, und ein Stromschlag lief mir den Rücken hinauf. Ich sagte ihm meinen Namen. Wieder starrten wir einander an. Trotz der Kälte war mir noch immer heiß, und ich blieb stumm. Samuel wusste auch nicht wirklich, was er sagen sollte. Er kratzte sich am Kopf, wobei sich sein helloranger Rollkragenpullover hochschob; ein flacher, weißer Bauch kam zum Vorschein sowie eine dunkelhaarige Linie vom Nabel abwärts bis zum Bund seiner ausgebeulten Jeans.
    Der Anblick ließ mein Herz schneller und lauter schlagen.
    »Ich würde dich gern auf einen Kaffee einladen«, sagte ich schließlich. »Aber ich bin schon viel zu spät dran für die Arbeit.«
    Wir setzten uns in Bewegung. Samuel erzählte mir, dass er ebenfalls zwei oder drei Stationen zu früh aus der die U-Bahn ausgestiegen sei. Das sei ihm aber egal, sagte er. »Ich musste dir einfach nachgehen«, sagte er. »Ich musste einfach den Klang deiner Stimme hören«, sagte er.
    Während wir weitergingen und knappe, langsame Worte fielen ließen, warfen wir einander schüchterne Blicke zu. Als wir an der Straße angekommen waren, wo ich nach links abbiegen musste, tauschten wir unsere Telefonnummern aus. Wir benahmen uns wie schüchterne Teenager. Ich berührte seinen Arm zum Abschied. Dann eilte Samuel davon.
    Ich verbrachte den Tag in einem traumähnlichen Geisteszustand. Zweifel und Reue nagten an mir. Mein Herz schlug viel zu schnell.
    Am Abend trug ich das Telefon in mein Zimmer und wählte die Nummer, die mir Samuel auf einen Zettel gekritzelt hatte.
    Das Telefon klingelte zweimal. Dann teilte mir die glatte Frauenstimme von France Télécom mit: »Le numéro que vous avez demandé n’est pas attribué. – Kein Anschluss unter dieser Nummer.«
    Samuel hatte mir eine falsche Telefonnummer gegeben.

Herumfummeln im ‚Le Queen’
     
    Wenn ich die breite Treppe der Disko hinunterschritt und mit den Wänden im Rhythmus erzitterte, erfüllten mich jedes Mal nervöse Vorfreude und Aufregung. Die Nebelmaschine, verschiedene Parfüms, frischer Schweiß,

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