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Kleine Portionen

Kleine Portionen

Titel: Kleine Portionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Moitzi
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Sonne lächelte aufmunternd, die Temperatur war lieblich, die Luft still und mit dem Duft der Blumen und der feuchten Erde gefüllt. Ich nahm Etienne beim Arm. Eine plötzliche Wallung ließ mich flüstern: »Du weißt schon, dass ich dich liebe?«
    Etienne blickte mich an und lächelte. Er flüsterte zurück: »Ich liebe dich … noch nicht!«
    Ich liebe dich … noch nicht. Wenn das keine Ohrfeige ins ahnungslose Gesicht ist!
    Warum ging die Sonne nicht augenblicklich unter? Warum zerkratzte ich Etiennes Gesicht nicht? Warum lief ich nicht sofort weg? Warum veränderte sich nichts um uns herum? Der Herbstnachmittag blieb so atemberaubend wie zuvor. Die Vögel zwitscherten weiter, als ob nichts Besonderes geschehen wäre.
    Man nehme eine kostbare Vase aus dünnem, zerbrechlichem Porzellan. Man schlage wieder und wieder mit einem kleinen, silbernen Löffel dagegen. Irgendwann wird es einem gelingen, ein kleines Stück abzusplittern.
    An jenem sonnigen Nachmittag fiel ein erster Splitter der zarten Porzellanvase namens Liebe zu Boden. Ein einfacher Satz hatte gereicht. »Ich liebe dich … noch nicht.«
    Ich erinnere mich noch an den weichen, entschuldigenden Ausdruck in Etiennes Augen. Sein süßes, um Vergebung bettelndes Lächeln. Das leise Flüstern, mit dem er diese Worte ausgesprochen hatte. Noch nicht. Ich verstand nur, dass die Türen nicht für immer geschlossen waren. Dass vielleicht noch etwas zu erhoffen war. Hoffnung lässt einen weitermachen. Hoffnung kann auch blind machen.
    Ich war noch nicht am Ende meines Weges angekommen. Es galt, noch viele Kurven und Biegungen und Umwege in Kauf zu nehmen. Aber irgendwann würde ich es erreichen, dieses Ende, auf langsame und qualvolle Weise.

Endgültige Entscheidung
     
    Das Ende kam schnell und unerwartet. Ich war derjenige, der mein Boot gesteuert hatte. Und ich war überrascht, als ich herausfand, in welche Richtung ich es gesteuert hatte. Ist es nicht seltsam, wie man das Ruder zielstrebig führt und sich einredet, dass man alles kontrolliert, und schließlich findet man heraus, dass man wo angekommen ist, wo man gar nicht hinwollte?
    Langweilige, harmlose Hochs und Tiefs bestimmten die letzten Monate mit Etienne. Als ob unsere Beziehung wirklich ein Boot gewesen wäre, das auf den launischen Wellen einer seichten Bucht schwamm. Das Seltsamste: Sturmwarnung gab es keine. Die Situation wirkte wie »business as usual«. Abendessen mit Freunden, manchmal ein Besuch im Kino, im Theater. So zog sich unser gemeinsames Leben bis März hin. Ich wickelte immer mehr Verteidigungsschichten um meine Gefühle, stählte meine Rüstung, überprüfte, ob ich blind genug blieb.
    Blieb ich aber nicht. Auch ein Strauß zieht manchmal den Kopf aus seinem Erdloch, um einen Blick auf die Realität zu werfen.
    Februar und März waren betriebsame Monate für Etienne. Seine Arbeit nahm ihn voll und ganz in Anspruch. Die nächste Modenschau rückte ja immer näher. Er war also kaum zu Hause, verbrachte ganze Nächte über seinen Entwürfen, half halb nackten, mageren Mädels in die neuen Kleider, verzweifelte darüber, welche Handtasche zu welchem Outfit passen könnte. Wenn ich meinen Freund mal zu Gesicht bekam, erwartete er von mir Verständnis, Fürsorge, Unterstützung.
    Und wenn ich mich umblickte, sah ich niemanden, der mich unterstützt hätte.
    Eines Tages passierte es dann. Es war neun am Abend. Ich wartete in Etiennes Wohnung darauf, dass er nach Hause kam und mich in seine Arme nahm, fühlte mich aufgewühlt und spürte, dass etwas geschehen musste. Ich stand in der Küche, beobachtete, wie in den Gebäuden um mich herum andere ihr Leben lebten. Ich stellte mir diese anderen Lebensgeschichten voll und saftig vor. Ich setzte mich auf einen Sessel. Stand wieder auf. Starrte mein Spiegelbild im Spiegel an. Setzte mich auf einen Sessel. Stand wieder auf.
    Launisch sagte ich mir, ich wollte gerne liebevolle Worte hören, mich geschützt und geliebt und sicher fühlen.
    Ich ließ mich zeremoniell auf dem Kilim nieder. Dann rief ich Etienne im Modestudio an.
    »Was willst du?«, fragte Etienne gehetzt. »Hör zu, ich hab’ wirklich nur eine Minute Zeit für dich. Mach schon, schieß los!«
    Das war absolut nicht, was ich mir erwartet hatte. Liebevolle Worte? Falsche Nummer, bitte woanders anrufen. Meine Enttäuschung nahm kosmische Ausmaße an. Ich entschloss mich zu einem Frontalangriff, weil Angriff oft die beste Verteidigung ist. »Ich will wissen: liebst du mich?«, platzte

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