Kleine Portionen
herauszuquetschen.
Ich erinnere mich nicht mehr, wie sie und Franck sich kennengelernt hatten. Aber ich erfuhr, dass sie häufig zusammen reisten. Ihre erste Reise hatte sie in die USA geführt. Während des Fluges plauderten sie über dies und das. Plötzlich und wie aus heiterem Himmel schoss Carla eine ihrer charakteristischen Fragen ab: »Sag mir, wichst du oft? Wo wir jetzt im gleichen Zimmer schlafen werden, muss ich das wissen.« Franck schüttete sich beinahe das Glas Wein, das er trank, übers Hemd. Natürlich beantwortete er ihre Frage nicht. Oder falls doch, hat er mir seine Antwort nicht verraten.
Jenes erste Mal reisten sie durch den Staat New York. Eines Abends gingen sie mit zwei Freunden, einem fünfzigjährigen Mann und seinem neuen, jungen und ziemlich ungeschickten Freund, in eine Schwulenbar. Auf dem Heimweg saß der Junge neben Carla. Sie sah ihn mit ihren »Möchte gern alles wissen«-Augen an und fragte dann: »Also – bist du der, der ihn in den Hinter geschoben kriegt, oder dein Freund?« Für sie war das eine ganz normale Frage.
Ich durfte auch einmal mit Franck und Carla verreisen. Die beiden hatten nach einer dreiwöchigen Skandinavienrundreise einen Endspurt nach London geplant, bevor es via Paris wieder zurück nach Wien ging. Ich buchte einen Direktflug nach London, wo wir ein Zimmer in einer Jugendherberge gebucht hatten. Während Franck dem British Museum seinen rituellen Besuch abstattete, entschieden Carla und ich uns für den Flohmarkt in Camden. Ich erinnere mich, wie wir beide auf der Straße standen, ohne zu wissen, wo’s lang ging. Ich war noch nie in London gewesen; Carla hatte auch keine Ahnung. Orientierung war nie ihre Stärke gewesen. Nach kurzer Debatte öffnete Carla die Straßenkarte, die sie in einer Schwulenbar aufgelesen hatte. Natürlich waren alle Schwulendiskos, -saunen, Sex-Shops, Cruising Areas mit riesigen rosa Dreiecken eingezeichnet. Einige explizite Anzeigen mit Nacktfotos verzierten den Rand der Karte. Dennoch wandte sich Carla mit natürlicher Nonchalance an eine vornehme Dame und zeigte ihr die Karte. Es wäre ihr einfach nie in den Sinn gekommen, dass manche Fotos die alte Dame schockieren hätten können.
Seltsam, wie sehr ich sie vermisse. Es ist schon eine Weile her. Manchmal, wenn ich in Wien bin, sehe ich eine junge Frau an der Kassa einer Buchhandlung oder vor einem Café. Und ich fühle in mir den plötzlichen Drang, hinzulaufen, sie zu umarmen und auszurufen: »Hey, Carla! Wie geht’s denn?« Und dann fällt es mir wieder ein. Und der Kloß im Hals sagt mir, dass es unmöglich ist.
Carla ist vor einigen Jahren von uns gegangen. Sie hat den Kampf gegen den Krebs, den sie ein Jahr lang ausgefochten hatte, verloren. Ich bin nicht zu ihrer Beerdigung gegangen. Ich habe ihrem Mann nicht einmal ein Kondolenzschreiben geschickt. Diese Fehler kann ich auch nicht rückgängig machen. Ich kann nur sagen und wiederholen, dass ich sie sehr vermisse. Und dass ich hoffe, sie hat ein paar gute Fragen vorbereitet, wenn wir uns wieder treffen, an jenem anderen, besseren Ort, von dem ich normalerweise behaupte, dass ich nicht an ihn glaube …
Kocham ciebie [1]
Wir verbrachten einen verliebten Nachmittag im Einkaufszentrum. Im Auto nahm Andrzej dann meine Hand und schrieb mit seinem Zeigefinger »Kocham ciebie« in meine Handfläche.
Bevor wir nach Hause fuhren, schauten wir bei Irina vorbei, Andrzejs Ex-Frau. Irina lebte mit ihrem Freund, einem breitschultrigen, polnischen Lkw-Fahrer, zusammen. Ich wurde vorgestellt und herzlich willkommen geheißen. Dann wurde ich beiseite geschoben und auf ein Sofa verfrachtet, wo ich zwei Stunden lang an einem lauwarmen Weißweinspritzer nippte und ihrem lebhaften Gespräch auf Polnisch zuhörte.
Ich verstand kein Wort, fühlte mich allein gelassen, ein Außenseiter.
In der nächsten Woche sahen wir uns wenig. Wir telefonierten aber stundenlang, wie Verliebte es nun mal tun, schickten nach Rosen duftende Worte durch den Draht und Sätze, die wir mit Gefühl und Sehnsucht durchtränkten.
Dann bat mich Andrzej in seine Wohnung. Ich kam mit randvollem Herzen. Aber als die Tür aufging, bemerkte ich sofort zwei Dinge: Andrzejs ernsten, traurigen Blick und Mozarts »Requiem«, das durch die Wohnung schallte. Worte waren unnütz, ich verstand sofort. Ich sank auf sein weißes Sofa, Tränen liefen über meine Wangen.
Andrzej reichte mir ein Taschentuch und sagte leise: »Es ist vorbei. Ich glaube, es ist besser
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