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Kleine Portionen

Kleine Portionen

Titel: Kleine Portionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Moitzi
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weiblichen Touristen »Viens voir, gazelle!« nachriefen. Ein schräger Sonnenstrahl schlüpfte durch ein Loch, hob Staub nach oben und verlieh der Szene einen Augenblick lang eine außernatürliche Schönheit.
    Grégoire feilschte mit einem Verkäufer. Das Objekt ihrer Verhandlung: ein hell-blau-luftiger Schal, den ich haben wollte. Der Verkäufer, ein schlanker Mann in den Dreißigern mit einem schwarzen, dicken Schnurrbart, lächelte. Dies war ein Spiel ganz nach seinem Geschmack. Alle drei saßen wir auf Hockern und schlürften Pfefferminztee.
    »Fünfzehn Francs«, schlug der Verkäufer vor.
    »Der Schal ist nur fünf wert«, antwortete Grégoire gelassen.
    Der Verkäufer hob die Hände in gespieltem Entsetzen. »Bei Allah!«, rief er. »Fünf Francs für so ein wundervolles Stück Stoff! Greif es an, na los, greif es an, fühl doch, wie glatt es ist! Und diese schöne Farbe! So was findest du nie wieder! Handgemacht, handgefärbt! Himmlisch gearbeitet! Mich hat es ja schon zwölf Francs gekostet!«
    »Ganz bestimmt!« Grégoire lachte. »Sie haben keine zwölf Francs dafür bezahlt. Wie auch immer, ich will fünf von den Tüchern. Für fünf Francs pro Stück, wenn ich bitten darf.«
    »Du willst mich ruinieren!«, krächzte der Verkäufer, aber seine lächelnden Augen verrieten ihn, Grégoire hatte sicher richtig geraten. »Wie soll ich bloß meine Kinder ernähren …!«
    Nach einer halben Stunde harter Feilscherei, und nachdem Grégoire immer wieder damit gedroht hatte, aufzustehen und zu gehen, kauften wir endlich die Schals. Sie kosteten sieben Francs pro Stück. Der Verkäufer steckte das Geld ein und sagte: »Ich verdiene keinen Centime mit euch, aber zumindest ist der Handel zustande gekommen, Hamdullah.« Dann sah er mich an und meinte: »Dein Freund ist ein guter Verhandler!« Er überlegte eine Sekunde lang, bevor er fortfuhr: »Willst du nicht hier bleiben? Ich könnte dich als Verkäufer brauchen. Mit deinen hellblauen Augen könntest du aus mir einen reichen Mann machen. Die Touristinnen würden dich lieben!«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
    Er bestand darauf: »Bleib hier! Du kannst sogar meine Tochter haben, wenn du willst. Ein wunderbares Mädchen, das ist sie, ja! Du wärst sicher zufrieden. Sie wiegt 120 Kilo. Ein Meisterwerk!«
    »Vielleicht das nächste Mal, wenn ich wiederkomme«, wich ich aus.
    »Okay, dann. Das nächste Mal, Insch’Allah.«

Ich fahre ins Büro
     
    In der U-Bahnlinie 9 steht dieser Vater mit seinen vier Kindern. Der Kopf des Mannes ist rasiert, er trägt einen langen, struppigen Bart, schwarz mit etwas weiß darin. Die beiden Mädchen, sie müssen zwischen sieben und neun Jahre alt sein, haben rosa Schleier auf dem Kopf, nicht eine einzige Haarsträhne ragte unter dem eng geknüpften Tuch hervor, und sie spielen irgendein namenloses Spiel, drehen ihre Finger und kichern. Die beiden Buben stehen direkt vor mir, sie haben dunkles, lockiges Haar, aufgeregte Stimmen. Der Vater hört sich auf seinem iPod Musik an, reagiert von Zeit zu Zeit, wenn er meint, die Kinder machen zu viel Lärm; dann schimpft er mit ihnen, ohne die Stimme zu erheben, wirft ihnen einen strengen Blick zu oder berührt sie sanft, aber fest, an der Schulter oder am Kopf.
    Die Leute um mich herum sehen abgehetzt und müde aus, niemand scheint bereit, auch nur die geringste Übertretung zu akzeptieren. Die meisten von ihnen starren die Kinder und ihren Vater mit leichter Empörung an. Man kann von einigen Gesichtern ablesen, was sie denken, wahrscheinlich etwas in der Richtung »Dachte ich mir, schon wieder ein Moslem, klar; na ja, was kann man sich erwarten, die wissen einfach nicht, wie man Kinder erzieht, ist ja immer alles erlaubt bei denen …« Ich errate diese Gedanken, ich habe so was schon so oft gehört. Ich persönlich finde die Kinder ja charmant, sie machen gar nicht so viel Lärm, und sie bemerken genau so wenig wie jedes andere Kind, was um sie herum existiert. Sie wissen noch nicht, dass die Leute am Freitagmorgen erschöpft sind, sie wissen noch nicht, was es heißt, von Montag bis Freitag in die Arbeit zu fahren, sie erleben ihr Leben noch immer mit einer gewissen natürlichen Unschuld. Ich finde übrigens den Vater rührend, wie er seine Kinder ansieht, selbst dann, wenn er sie ausschimpft, weil ich in seinem Blick und in der Art, wie er über die Locken seiner Söhne streichelt, viel Zärtlichkeit und Liebe erkenne.
    Ein junger Mann steigt bei Franklin D. Roosevelt ein. Er

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