Kleine Schiffe
vorweihnachtlichen Straßenbeleuchtung, den buntgeschmückten Fenstern. Mir gefällt sogar das grelle Weihnachtsschmuckangebot im Supermarkt, auch wenn Weihnachten noch fast sieben Wochen entfernt liegt. Alles strahlt hell und gleißend – und auf tröstliche Weise lebendig.
Am Samstag vor dem ersten Advent taucht Papa mit einer großen Kiste bei uns auf. »Guck mal, Franzi, was ich bei mir auf dem Speicher gefunden habe.« Er wuchtet die Kiste in die Küche, setzt sich an den Tisch, nimmt auf jedes Knie ein Kind und sieht mich gespannt an.
Neugierig öffne ich die Kiste und sehe eine Vielzahl von kleinen Seidenpapierpäckchen. Eine Ahnung steigt in mir auf, mein Atem geht schneller, es durchzuckt mich warm, und ich spüre ein lange vergessenes Glücksgefühl. Schnell nehme ich eines der Päckchen aus dem Karton, wickle das Seidenpapier ab und halte ein filigranes hölzernes Engelchen in den Händen, mit rosafarbenen Flügeln und weißem Hemd, das mit geblähten Wangen Trompete bläst. Ich setze es sanft auf den Tisch, greife zum nächsten Päckchen und wickle ein Flöte spielendes Engelchen aus. Dann befreie ich ein Engelchen mit Dirigentenstab vom Seidenpapier, und so geht es weiter, bis ein vollständiges Engelorchester vor mir steht.
Die Kinder beobachten mich mit großen Augen, und Papa hält liebevoll ihre Händchen fest, die so gern zugreifen wollen. »Da muss der Nussknacker drin sein, den können sie anfassen«, sagt er und deutet auf ein größeres Päckchen.
Ich packe weiter aus und finde tatsächlich den großen Nussknacker, der mich als Kind Jahr für Jahr begeisterte. Er ist fast zwanzig Zentimeter hoch, rot und grün bemalt. Unter seinen Lippen klebt ein weißer Kunsthaarbart.
Amélie juchzt auf. Papa ergreift den Hebel des Nussknackers auf seinem Rücken und lässt ihn den Mund aufreißen. Wir müssen beide lachen, als wir Amélies Schrecken und gleichzeitiges Staunen sehen. Sie zappelt und will auf den Boden. Während sie das Geschehen aus sicherer Entfernung betrachtet, ist Lisa-Marie mutiger. Papa führt ihre rechte Hand zum Rachen des Nussknackers und schließt ihn dann spielerisch. Verblüfft zieht Bim ihre Finger aus dem Nussknackermaul. Danach betrachtet sie die Holzfigur mit derselben Mischung aus Faszination und Respekt, die ich aus meinen Kindertagen erinnere.
»Ich habe mich immer gefragt, wo die Sachen geblieben sind.«
Papa zupft unbehaglich am Rundhalsausschnitt seines Pullovers. »Du weißt doch, dass ich für solche Sachen keinen Sinn hatte. Als deine Mutter starb, habe ich das alles weggepackt.«
Ich wickele weiter aus und fördere eine kleine Holzpyramide und eine Schachtel mit Glasvögeln zutage. Meine Augen werden feucht, als ich die Handschrift meiner Mutter auf einer weiteren Schachtel entdecke: »Baumschmuck und Kugeln.«
Ich lächele Papa an. »In diesem Jahr werden wir einen Weihnachtsbaum aufstellen.« Als das letzte Seidenpapier auseinandergezogen ist und alle Engel, Rehe und kleinen Tannenbäume auf dem Tisch stehen, verteilen wir unseren neuen Reichtum im Haus. Die Engelskapelle formiert sich auf der Fensterbank im Wohnzimmer, die so hoch ist, dass die Mädchen nicht an die Figuren herankommen, sie aber sehen können. Der Nussknacker grüßt von der Küchenanrichte, wo er über eine Schüssel mit Walnüssen wacht. Daneben bilden die geschnitzten Tannen eine kleine Lichtung, die Schutz für eine Ricke und ihr Kitz bietet. Das Wild habe ich einer Box mit der Aufschrift »diverse Rehe« entnommen.
»Diverse Rehe!« Papa lächelt. »Das ist typisch für deine Mutter! Sie war immer so ordentlich.«
Die Glasvögel setze ich auf die Verstrebungen meines großen Kerzenleuchters im Wohnzimmer.
Obwohl sich Tina von unserer Weihnachtsstimmung nicht anstecken lässt, hat sie den Kindern in liebevoller Kleinarbeit Adventskalender gebastelt, hat achtundvierzig winzige Frotteewaschlappen mit Spielfiguren, Süßigkeiten, Babybadeschaumproben und anderen Kleinigkeiten gefüllt und mit roten und goldenen Schleifen verschlossen. »Auf die Idee hat mich Britta gebracht«, erzählt sie beim Kaffee am ersten Advent, zu dem sich neben Papa und den Unvermeidlichen überraschend auch Dieter vom Sport und meine alten Schulfreundinnen Julia und Petra angesagt haben.
Das Gespräch dreht sich um die Planung der Weihnachtstage. Julia und Petra feiern mit ihren Familien, Rudi und Helmut wollen eine alte Schulfreundin im Altenheim besuchen, Papa zuckt mit den Achseln.
»Was hast du vor?«,
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