Kleine Schiffe
ausfallen. Obwohl wir uns regelmäßig treffen, scheine ich einiges bei Tina übersehen zu haben. Zwar habe ich ab und zu mitbekommen, dass sie einen neuen missglückten Flirt erlebte, aber sie ist nie ins Detail gegangen, und ich habe nicht nachgefragt. »Also, was ist los?« Tina seufzt wieder, fährt sich mit der Hand über die Stirn und lächelt mir dann zu. »Für dich war Lillis … Tod natürlich ein größerer Einschnitt, weil sich deine Lebenssituation grundlegend geändert hat. Aber ich habe auch Probleme.«
»Welche denn?«
Tina seufzt noch einmal. Dann sagt sie: »Ich weiß gar nicht, wie ich das formulieren soll. Aber …« Ihre Stimme klingt verzagt. »Mit dem Noch-einmal-Loslegen klappt es nicht so richtig.«
»Wie meinst du das?«
»Na, weißt du noch, welche großen Pläne ich damals nach deiner Scheidung hatte? Du bist vierundvierzig, nicht vierundachtzig habe ich gepredigt.« Sie verzieht ihren Mund anerkennend. »Das ist bei dir ja auf sehr fruchtbaren Boden gefallen. Und du hast gleich bei Lillis Freunden gewildert.« Als sie mein Gesicht sieht, beeilt sie sich hinzuzufügen: »Das war ein Scherz, Franzi!«
Ich sage das Erste, was mir spontan einfällt: »Warst du etwa eifersüchtig? Ich meine, darauf, dass Simon und ich …« Tina nickt und sieht mich offen an. Ihre Antwort überrascht mich. »Ja, und wie! Ich habe dir das natürlich nicht gesagt. Aber ich war zerfressen vor Eifersucht!« Sie grinst entschuldigend. »Kein besonders schönes Gefühl. Aber ich konnte es nicht ändern. Ich meine, du kriegst nicht etwa nur mit vierundvierzig ein Baby – nein, du bekommst auch noch einen jungen Liebhaber, der nicht nur einfach mit dir ins Bett will, sondern sich in dich verliebt und eine kleine Familie aufmacht.« Sie sieht zerknirscht drein. »Ich hätte gern mit dir darüber gesprochen, aber ich konnte nicht. Also habe ich mich darauf beschränkt, dich zu warnen. Ziemlich kleinlich von mir, oder? Und dann ist auch noch Andreas als liebevoller Vater um die Ecke gekommen …«
Ich fühle mich schlecht. In meinem Kummer habe ich meine beste Freundin wochenlang vernachlässigt. Ich bin selbstverständlich davon ausgegangen, dass ich die Hauptrolle spiele. Dass ich diejenige bin, auf die alle Rücksicht nehmen müssen. Ich hatte eine Scheidung hinter mir. Ich hatte ein Kind bekommen. Ich hatte Lilli verloren. Ich lebte mit zwei Kindern weiter. Ich hatte mich von meinem jungen Liebhaber getrennt und mit dem Vater meiner Tochter zerstritten. Ich, ich, ich . Aber Tina war immer dabei gewesen und hatte mir geholfen. Hatte mich durch die ersten Tage nach Lillis Tod gebracht, hatte sich um Lisa-Marie gekümmert, hatte mit mir die Beerdigung durchgestanden, hatte mich nach Simons Umzug mit einem teuren Badeöl überrascht und sich meine Tiraden über Andreas und seine fixe Idee, dass wir alle zu ihm nach Aabenraa ziehen sollten, mit nachsichtigem Lächeln mehrfach angehört. Mir fällt das Bette-Midler-Lied ein: »You are the wind beneath my wings.« Ich schüttele den Kopf. »Nicht du musst dich schämen, sondern ich! Ich war so egoistisch!«
Tina nickt. »Ja, aber doch auch mit Recht. Bei mir lief alles glatt. Die Praxis, mein soziales Leben. Nur das mit den Männern … Aber das ist ja nichts Neues bei mir.«
»Bei mir doch auch nicht. Mir geht es doch gar nicht viel besser! Jetzt bin ich eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern – und weit und breit kein Mann in Sicht.«
Tina schnieft. »Das hast du ja toll hingekriegt – und mit dir wollte ich noch einmal die Welt erobern. Stattdessen sitzen wir am Kamin und bewachen den Schlaf der Kinder.« Sie lächelt mich an. »Aber weißt du was? Solange wir das zusammen machen, ist es in Ordnung!«
Wir liegen uns in den Armen. Heulen beide ein bisschen und sind einander so nahe, wie nur beste Freundinnen einander nahe sein können: mit einer absoluten Parallelität der Gefühle. Ich kann auf Tina neidisch sein – und gleichzeitig gönne ich ihr alles Glück auf Erden. Ich kann sie anstrengend finden – und gleichzeitig möchte ich auf ihren Rat nicht verzichten. Ich kann sie als übertrieben kritisieren – und würde mich doch immer vor sie stellen, wenn irgendein anderer sie angreift. Wir stoßen noch einmal an. Ich putze mir die Nase und sage: »Also, was ist los? Was am Noch-einmal-Loslegen klappt nicht?«
Tina spielt mit ihrem Glas. »Na, ich habe doch gedacht, ich könnte einfach wie immer weitermachen – wie nach meiner Beziehung mit
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