Kleine Schiffe
wende ich mich an Tina. Sie leert die Keksschüssel mit einem zielsicheren Griff, kaut bedächtig und antwortet dann: »Auf keinen Fall werde ich dir bei deinem Mutti-Opa-Kindchen-Glück zuschauen! Die Mäuse bekommen ihre Patentanten-Geschenke im Voraus geliefert. Meine Schwester hat die Familie zu sich eingeladen. Ihre Planung sieht vor, dass meine Eltern und ich den ganzen Abend den Christbaum und ihre drei ach so begabten Gören beklatschen, die derart Aufsehen erregende Dinge tun, wie ihre Sweatshirts unfallfrei vom Boden aufzuheben. Und Schwesterleins Gatte stöhnt über die viele Arbeit und den Lieferstau bei den Firmenwagen und die Finanzkrise. Meine Eltern tragen es mit Fassung, weil sie gern Großeltern sind. Aber ich bin das fünfte Rad am Wagen.«
Alle lachen, aber ich spüre, dass Tina gar nicht lustig zumute ist. Sie sieht mich trotzig an. »Nein, Weihnachten bleibe ich diesmal zu Hause und betrinke mich. Oder ich gehe aus und betrinke mich. Oder …«
»Schon kapiert: Egal, was du tust, am Ende wirst du betrunken sein.«
»So ist es.« Sie greift zum Kaffeebecher. »Hoch die Tassen!«
Als alle anderen gegangen sind, versuche ich, Tina noch einmal zu trösten. »Es ist okay, wenn du Weihnachten allein feiern willst. Aber was ist mit Silvester?«
Tina sieht mich verständnislos an. »Was soll damit sein? Silvester ist doch genauso trübselig. Wenn am Ende jeder seinen Schatz küsst.«
»Dann kannst du ja mich küssen. Bei mir ist derzeit auch kein Schatz weit und breit zu sehen!« Ich blicke sie auffordernd an. »Lass uns doch eine Party feiern! Einige vom Chor haben bei der letzten Probe gefragt, ob jemand eine größere Feier plant.« Ich schränke ein: »Vielleicht organisiere ich lieber eine Feier mit Büfett, zu dem jeder was mitbringt.« Ich bin Feuer und Flamme für meine Idee und denke laut weiter: »Es gibt immer erstaunlich viele Leute, die noch nicht wissen, wie sie feiern wollen. Es soll ja auch ganz unkompliziert sein. Ich werde den Verteiler der Indiaca-Gruppe anmailen. Einige von Lillis Freunden haben bestimmt auch Lust. Oliver und Tarek beispielsweise. Die können ja hinterher auch noch woanders Party machen.«
Ich sehe am Glitzern in Tinas Augen, dass sie anfängt, sich für die Idee zu erwärmen. Sie schnippt mit den Fingern. »Was hältst du von einer Motto-Party? Und ich weiß auch schon das Motto: Silvester wie früher. Du weißt schon, Silvester, wie wir es als Kinder feierten – als es noch nicht darum ging, cool zu sein. Ein Silvester mit Kartoffelsalat und Würstchen, mit der Silvestershow im Fernsehen, ›Dinner for One‹, mit Gesellschaftsspielen, Bleigießen und Knallerei erst ab Mitternacht.«
Ich hole Papier und einen Stift, und wir fangen an zu planen. Als Erstes schreibe ich »Gästeliste« auf.
»Nele und Carlos aus dem Chor. Carlos bringt bestimmt seine leckere Paella mit.«
»Was ist mit Steffen und den anderen vom Kochkurs?«
»Einladen!«
Tina will unsere Hebammen fragen. Ich notiere aus dem Indiaca-Kurs Dieter mit Frau, Ralf mit Frau und Kind, Insa und Michaela. Am nächsten Tag schicken wir per E-Mail die Einladungen raus. Papa und den Unvermeidlichen sagen wir natürlich auch Bescheid, und sie sind sofort dabei. Papa druckst nur ein wenig herum, bis er damit herausrückt, dass er Hedi einladen möchte.
So kommt es, dass Tina zwar meine folgenden Adventskaffee-Einladungen bedingt durch ihre Weihnachtsdepression abschlägt, sich aber mit der Vorbereitung unserer Party beschäftigt. Fast 30 Leute haben sich angemeldet. Aber während Tina schon kalkuliert, wie viele Kartoffeln für ihren legendären Kartoffelsalat geschält werden müssen, erfreue ich mich noch an den vielen großen und kleinen Vorweihnachtsritualen: das Öffnen der Adventskalender, das Entzünden der Kerzen auf dem Adventskranz, die antike Mahalia-Jackson-LP, die mein Vater ausgräbt. Die Unvermeidlichen schleppen zu diesem Zweck einen alten Plattenspieler an, und nun erklingt bei jeder Gelegenheit knisternd und rauschend »Ho-ho-ly Night«. Die alten Herren lassen den Hinweis, dass es diese Musik auch auf CD gibt, nicht gelten.
Jedenfalls sind die drei nun statt Tina bei jedem Adventskaffee dabei. Und auch andere finden den Weg vor meinen Kamin. Es ist, als ob noch ein wenig von Lillis Menschenmagnetglanz unter uns leuchtet. Natürlich fehlt sie mir in dieser Zeit immer noch – und mir fehlt Andreas. Mehr als einmal tut mir unser Streit leid. Aber keinem von uns beiden gelingt es,
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