Kleine Schiffe
Bodo. Rausgehen, flirten, Männer treffen, mich verlieben, tanzen. Nur: Damals war ich Anfang dreißig. Heute traue ich mich nicht mehr.«
»Wieso das denn? In Brasilien und Argentinien tanzen sogar noch Achtzigjährige.«
»Wir sind hier aber nicht in Brasilien, sondern in Hamburg! Da unten tanzen die Tango oder was weiß ich. Aber hier? Dieses Gehopse im Freestyle zu Hiphop-Musik, die wie ein sterbender Elefant klingt, der mit einem defekten Presslufthammer gefoltert wird – das kann ich nicht!«
»Das musst du doch auch nicht. Aber vielleicht wäre ein Tangokurs eine gute Sache?«
Tina sinkt in sich zusammen. »Nein, vielen Dank! Der Kochkurs war mir eine Lehre. Am Ende habe ich in Suse eine neue Freundin gefunden – aber die Herren der Schöpfung suchen immer schnell das Weite. Und weißt du, was das Schärfste ist?« Sie streckt empört ihren Zeigefinger in die Luft. »Die neueste Theorie in der Single-Forschung ist folgende: Singles wollen eigentlich gar keine Partner!«
»Wie bitte?«
»Die Paartherapeuten sind der Meinung, dass Singles selbst schuld sind. Wer einen Partner will, findet auch einen, lautet deren These. Und wenn du keinen findest, willst du im Grunde auch gar keinen. Ich bin also nicht nur für mein Gewicht, meine Gesundheit, meinen Job allein verantwortlich, sondern auch für mein Versagen im zwischenmenschlichen Bereich!« Ihre Lippen zittern, als sie mich mit betrübten Augen ansieht. »Meinst du, das stimmt? Ich möchte mich so gern wieder verlieben. Aber mich will keiner!« Sie zieht die Nase hoch und wehrt ab, als ich ihr ein Papiertaschentuch zuschieben will. Während sie eines aus ihrer eigenen Tasche holt und sich schneuzt, murmelt sie: »Und sag jetzt bloß nicht, dass du mich wunderbar findest! Das ist zwar sehr lieb – aber du bist nun mal nicht meine erste Wahl als Begleitperson für einen tropischen Sonnenuntergang am Meer.«
»Bei deinem einzigen Tropenbesuch hast du dir merkwürdige Strandwürmer geholt, die sich in deinen Hintern gefressen haben«, erinnere ich sie trocken.
Tina muss wider Willen lachen.
»Geschenkt! Auf jeden Fall muss ich mir für nächstes Jahr eine andere Strategie ausdenken.«
Ich denke an Andreas und dass ich mich manchmal fühle wie vor meiner Scheidung. Ich vermisse ihn immer noch. Immer wieder. Obwohl ich ihn heute nicht mehr um jeden Preis zurückhaben möchte. Ich will einfach nicht nach Aabenraa. Wir sind kein Liebespaar mehr, wir sind geschieden. Und für eine Vernunft-Wohngemeinschaft wegen der Kinder fühle ich mich in der Wiesenstraße zu sehr zu Hause. Und doch denke ich wieder an Andreas, kann das Leuchten in seinen Augen nicht vergessen, als wir uns im »Lál Pera« getroffen haben. Seine Einfühlsamkeit, mit der er mich in den schrecklichen Tagen nach Lillis Tod begleitet hat. Andreas … Ich behalte alle diese Gedanken für mich. Aber ich nehme mir vor, genau aufzupassen, wenn Tina ihre neue Strategie präsentiert. Vielleicht hat sie ja einen Tipp für mich.
Der Herbst kommt mit Stürmen und Regenfällen, und unaufhaltsam steuert der Oktober auf Halloween und auf Lillis Todestag zu. In der Krabbelgruppe der Babylounge gibt es am Vormittag einen Halloween-Kaffeeklatsch, zu dem ich mit den Kindern gehe und daran denke, wie Lilli an jenem Tag zum Feiern »mit den Mädels« verschwunden ist. Wo wohl das kleine Plastikgebiss geblieben ist, dass sie damals über ihre Zähne gestülpt hatte? Es war nicht bei den Sachen, die wir vom Krankenhaus zurückbekommen haben … Am Nachmittag bin ich mit Tina für einen Gang zum Friedhof verabredet. Die Kinder sind bei Papa und den Unvermeidlichen. Ich habe ein neues Grablicht gekauft, Tina hat drei rote Rosen besorgt. Auf dem Weg zu Lillis Grab kommt uns Oliver entgegen. Er grüßt uns verlegen und scheu und geht schnell an uns vorbei.
Vor dem Grabstein liegt schon eine Rose. Tina holt aus ihrer Tasche eine Thermoskanne. »Was ist das?« Tina lächelt. »Na, was wohl?« Sie gießt dampfenden Kakao in die Verschlusskappe, die auch als Becher dient. So stehen wir vor dem Grab, trinken Lillis Lieblingsgetränk und denken an das schöne Mädchen mit den strahlenden blauen Augen und dem Pfirsich-Lächeln.
Die Zeit heilt zwar nicht alle Wunden – aber mit der Zeit nimmt der Schmerz ab. Mir gelingt es mittlerweile auch, die Missstimmung mit Andreas, die ich monatelang wie einen leichten, aber hartnäckigen Kopfschmerz gespürt habe, zu verdrängen. Ich erfreue mich in diesem Jahr wieder an der
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