Kleine Schiffe
überlegenen Lächeln.
Wenigstens gesteht er mir kampflos Kernkompetenz beim Wickeln von Amélie zu und rettet sich mit den Worten »Nee, danke. Mach du das lieber!« ins Wohnzimmer, als seine Lieblingsenkelin vor dem Nachmittagsschläfchen eine frische Windel bekommen muss.
Der Rotkohl simmert vor sich hin, die brutzelnde Gans verströmt ihren würzigen Duft, Papa ist dabei, den Kamin neu mit Feuerholz zu bestücken, und ich will mich gerade aufs Küchensofa kuscheln – da klingelt es.
Vor der Tür steht – Andreas! Wirre Locken lugen unter einer tief in die Stirn gezogenen Mütze hervor. Ein dicker Schal ist um seinen Hals geschlungen. Er ist blass und hohläugig.
Einen Moment lang mustern wir uns schweigend, dann zieht sich sein Gesicht gequält zusammen, seine Augen verengen sich zu Sehschlitzen, er reißt den Mund auf und wird von einem Niesanfall geschüttelt.
»Wer ist es denn?«, ruft Papa aus dem Wohnzimmer.
Andreas lehnt mit grünlichem Gesicht und roter, wundgeschneuzter Nase an der Wand. »Franzi, hast du ein Aspirin?« Mein Herz zieht sich zusammen. Wie blass er ist, der arme Kerl.
Ich frage mich zwar, was Andreas gerade am Heiligabend zu uns treibt, aber im Vergleich zu Papas exotischem Verlangen nach Beifuß und Trockenobst erscheint mir Andreas’ Wunsch erfrischend unproblematisch. »Komm erst mal rein!« Ich schiebe ihn in die Küche. »Ich hab natürlich Aspirin im Haus. Was machst du überhaupt in Hamburg?«
Andreas sinkt auf den Küchenstuhl. Seine Augen glänzen fiebrig. »Weihnachten ist doch das Fest der Familie«, hüstelt er und putzt sich die Nase. »Ich bin furchtbar erkältet.«
»Und da hast du gedacht, es wäre doch prima, uns alle anzustecken? Im Sinne von festlich und familiär?«, stänkert Papa von der Tür her. Er mustert Andreas mit unverhohlener Abneigung. »Du als Arzt weißt ja, wie anfällig vor allem Kinder und alte Leute in der Grippezeit sind. Bei uns findet ein Bakterienbomber wie du fette Beute!«
Andreas ist offenbar zu erschöpft, um sich zu wehren. Er zieht nur die Nase hoch und fragt kläglich: »Franziska, … Aspirin?«
Ich hole die Packung aus der Schrankschublade und fülle ein Glas mit Wasser. »Was machen wir denn nun mit dir?«
Papa grätscht sofort dazwischen: »Quarantäne in einem Hotel am Hafen oder am besten postwendend zurück nach Dänemark! Da wartet ein großes Krankenhaus auf dich.«
»Papa!« Mir tut Andreas trotz seines Überfalls leid. Er ist krank, er ist allein und er ist Amélies Vater. Ich will mir nicht eines Tages vorwerfen lassen, dass ich ihn – noch dazu am Heiligabend! – in die Kälte gestoßen habe. Oder, besser gesagt, in den Regen, denn von weißen Weihnachten sind wir auch in diesem Jahr mindestens vier regnerische Grad Celsius entfernt. »Du legst dich im Gästezimmer hin und ruhst dich erst mal aus. Ich bringe dir einen Tee«, entscheide ich, ohne Papas ärgerliches Gesicht zu beachten.
Vier Stunden später sitzt Andreas mit am Tisch – eingehüllt in eine Wolldecke und bewaffnet mit einer Toilettenpapierrolle, weil ich nicht genügend Papiertaschentücher im Haus habe.
Vor der Gans findet die Bescherung für die Kinder statt. »Netter Weihnachtsbaum!«, schnieft Andreas höflich.
»Den habe ich besorgt!« Bei diesen Worten lächelt Papa sogar.
Die Tanne ist nicht besonders groß – wir haben sie auf den Küchenhocker gestellt, über den ich eine rote Weihnachtstischdecke geworfen habe. Unser kleines, dickes Bäumchen ist mit Mamas Christbaumkugeln, Sternen und Bienenwachskerzen bestückt – sowie mit von Papa sorgfältig aufgefädelten Schokokringeln.
Wir zünden die Kerzen an und singen für die Mädchen »Alle Jahre wieder«. Papa kann den Text auswendig und zieht uns mit. Sogar Andreas krächzt mit belegter Stimme vor sich hin.
Die Kinder machen große Augen, als wir ihnen die Geschenke zeigen. In ihrem Alter ist das Auspacken noch viel schöner als das eigentliche Geschenk. Verstehen können sie das Fest nicht – aber es gefällt ihnen. Von Papa bekommen sie Spielzeugtiere, die mit einem Stab geschoben werden können, von mir neue Förmchen für die Sandkiste und von Andreas zwei Steckspiele aus buntem Holz.
Dann steht endlich die Gans auf dem Tisch. Papa zieht naserümpfend über die Fertigklöße her, die Amélie und Lisa-Marie aber ausgezeichnet schmecken.
Andreas muss natürlich nachfragen: »Hätte man die Gans nicht mit ein bisschen Knoblauch anbraten sollen?«
»Manche Dinge ändern sich
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