Kleine Schiffe
heute rundum glücklich: als ich mit Papa an dem von ihm gedeckten Tisch saß. Ich fühlte mich aufgehoben und umsorgt. Wie ein geliebtes Kind.
Meine Gedanken tanzen weiter. Papas Pro-und-Kontra-Liste will sich einfach nicht schreiben lassen. Denn ich weiß längst, was ich tun werde. Ich kann das Kind nicht bekommen. Wie soll das gehen? Ohne Vater? Ohne Freundin? Ohne Großvater? Ich bin keine Heldin.
5. Kapitel
All dieses Wissen
all dieses Glauben
all dieses Beten
und all dieses Vermissen
bringt dich nicht zurück zu mir.
Bernd Begemann: »Es wird noch ein sehr schöner Tag werden«
I n den Nächten ist es am schlimmsten. Seit ich weiß, dass ich schwanger bin, kann ich nicht mehr schlafen. Die Gedanken rasen durch meinen Kopf. Denn so eindeutig, wie ich meinte, habe ich mich doch noch nicht gegen das Kind entschieden. Ich schwanke zwischen Angstvisionen und Euphorie. Ich kann das Kind nicht bekommen. Nicht jetzt, nicht in meiner Situation. Was, wenn es nicht gesund ist? Oder wenn ich krank werde? Schließlich ist Mama auch früh gestorben. Das Schicksal, als Waise aufzuwachsen, möchte ich meinem eigenen Kind ersparen. Andererseits – und dieses Gefühl habe ich Tina und meinem Vater verheimlicht – vermag ich mein Glück kaum zu fassen. Ich musste davon ausgehen, dass ich nicht schwanger werden kann. Und jetzt das. Der Lottosechser. Muss ich diese Chance nicht nutzen? Oder kann ein Lebenstraum auch zu spät in Erfüllung gehen?
Im Dunkeln lege ich die Hände auf meinen Bauch. Noch fühlt sich alles an wie immer. Meine Hüftknochen, die leichte Wölbung unter dem Nabel, die ich weder mit Diäten noch mit Gymnastik jemals wegbekommen habe.
Andreas mochte dieses kleine Bäuchlein. »Du bist doch kein Junge, sondern eine Frau«, hat er einmal gesagt, seine Wange auf meinen Bauch gelegt und den Bauchnabel geküsst. An diese Worte denke ich jetzt, während ich versuche, in mich hineinzuhorchen.
Ich bin schwanger.
Noch ist mein kleiner Gast unsichtbar. Abgesehen von der Übelkeit, die er – oder sie? – mir weiterhin auf den Hals, oder besser, auf den Magen hetzt. Sogar nachts. Daran kann man sich wohl nicht gewöhnen, aber es macht mir keine Angst mehr. Ich hänge mittlerweile fast routiniert über der Kloschüssel und greife nach dem Anfall zum WC-Reiniger. Das Kotzen macht mir nicht mehr so viel aus – es ist nichts gegen das Karussell in meinem Kopf.
Ich beginne, mich vor der Nacht zu fürchten. Das war auch so, als Andreas mir gesagt hat, dass er sich von mir trennen will. Damals war ich genauso froh, wenn sich die Dunkelheit vor unserem Schlafzimmerfenster in das milchige Grau des Morgens verwandelte.
Tagsüber gibt es Gesetze, die die Stunden bestimmen. Man muss zur Arbeit, man muss einkaufen, die Spülmaschine ausräumen, bügeln, irgendetwas. Durch den Tag kommt man immer, selbst wenn man verlassen, unglücklich, liebeskrank ist. Aber die Nächte! In den Nächten stürzen die zerbrochenen Träume mit Getöse auf die Seele. Die unerfüllten Wünsche lagern als Eisengewichte auf dem Herzen. Panik nimmt einem den Atem – die Furcht, nie wieder glücklich zu werden und keine heilen Träume mehr zu finden, presst einem den Angstschweiß aus jeder Pore.
Am Morgen fühlt man sich leer, ausgehöhlt. Als habe einem jemand Sand in die Augen gestreut. Er scheuert ständig unter den Augenlidern, und man ist unendlich müde. Doch in der nächsten Nacht kann man trotzdem nicht besser schlafen.
Zum ersten Mal bin ich froh, dass meine Mutter nicht mehr lebt. Für Mama wäre eine Abtreibung mit Sicherheit eine Sünde. Sie war keine besonders fromme Christin, ging aber hin und wieder zur Kirche. Sie hat mit mir gebetet, als ich klein war. Das GuteNacht-Sagen war ein ausgeklügeltes Ritual. Erst wurde ich gebadet, dann kuschelte ich mich ins Bett, und Mama las vor. Am Anfang Bilderbücher, und als ich größer wurde, auch Geschichten wie »Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen«, und zwar das Original. Danach wurde gebetet. Ein Kindergebet, nichts Aufwendiges. Nur ein Vers, der den Schlusspunkt hinter meinen Tag setzte.
Wenn ich jetzt schlaflos in der Dunkelheit liege, versuche ich mich an das Gebet zu erinnern. Und während ich die ersten Worte murmele, fallen mir auch die anderen wieder ein. »Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm. Amen, gute Nacht.« Wobei ich mich als Kind nicht daran störte, dass ich nicht wusste, was »fromm« eigentlich bedeutet. Und
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