Kleine Schiffe
sagen: Kauf dir ein Buch.«
Jetzt lachen wir beide. Meine Mutter war der Bücherwurm der Familie. Sie las, wo sie ging und stand. Und sie glaubte, dass man alles in Büchern finden kann. Dass in ihnen alle Rätsel gelöst und alle Wunder beschrieben werden. Dass zwischen zwei Buchdeckeln alles Wissen gesammelt und alle Magie zu entdecken ist. Ich besaß bereits einen Ausweis der Jugendbücherei, bevor ich lesen konnte. Zum Geburtstag schenkte Mama mir unverdrossen Bücher, obwohl ich kein Hehl daraus machte, dass sie mich nicht besonders interessierten. Arme Mama! Ich versuche mich zu erinnern, wie meine Mutter aussah, wenn sie ihre Standardratschläge zum Erwerb eines Buches gab. Hat sie dabei ironisch die Augenbrauen gehoben? Die Lippen geschürzt? Gelächelt? Für eine Sekunde glaube ich Mama zu sehen. Doch das Bild verschwimmt, rutscht weg. Papa kann ich danach nicht fragen. Er würde nur sein Gesicht in den Händen verbergen und vorgeben, alles vergessen zu haben. Vielleicht würden seine Augen dabei feucht werden. Dem fühle ich mich heute nicht gewachsen.
Papa stellt seine Espressotasse klirrend auf die Untertasse. »Alleinerziehende Mütter haben es schwer. Dazu kommt, dass du nicht mehr die Jüngste bist.«
»Papa! Ich bin vierundvierzig, nicht vierundachtzig!« Gut, dass mir Tinas Argument für einen wilden Lebensstil wieder einfällt.
Er nickt. »Ich weiß, aber …«
Ich bohre nach: »Was rätst du mir? Schließlich geht es um dein Enkelkind.«
Er versinkt in seinem Kragen, taucht dann aber überraschend schnell wieder auf und schnappt: »Noch ist das nicht mein Enkel, sondern ein winziger Zellklumpen. Wenn ich sterbe, geht dieser Zellklumpen wahrscheinlich noch nicht einmal in die Schule! Kurz: Ich würde es nicht bekommen, wenn ich du wäre.« Mit zwei Sätzen hat er die innige Vater-Tochter-Stimmung pulverisiert. Ich wünschte, ich hätte jetzt auch einen Rollkragen, in dem ich versinken könnte. Meine Teetasse ist leider schon leer.
»Wieso?«
Papa steht auf und räumt den Tisch mit lautem Getöse ab. Dazu sagt er in nörgelndem Ton: »Wieso? Wieso? Denk doch mal nach, Franziska. Du bist frisch geschieden, nicht gerade praktisch veranlagt. Dieses Haus ist zu groß für dich, es ist nicht einmal fertig renoviert. Außerdem wollte ich doch hier mit einziehen. Mit einem Säugling und mir, das geht niemals gut!«
Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Wer hier mit einzieht, das bestimme immer noch ich.«
Papa macht ein gekränktes Gesicht. »Franzi, du bist mein einziges Kind. Und du willst mich nicht bei dir haben?«
Du und die Unvermeidlichen. Und dann bin ich eure Putzfrau. Betreutes Wohnen bei Franzi Funk , denke ich. Und dann denke ich noch: Zellklumpen . Ich beginne das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen und drücke mich um eine Antwort. Schließlich muss ich auf solche unfairen Einwürfe nicht antworten.
Papa versteht, dass die Teestunde beendet ist. »Lass mich wissen, wofür du dich entscheidest«, verkündet er, während er in seine Jacke schlüpft, die er über das Sofa geworfen hat. Bevor er geht, stellt er die Frage, die ich so ähnlich schon von Tina kenne: »Weiß Andreas davon?«
Diesmal habe ich eine Antwort parat. »Nein, Papa, er weiß es nicht. Und ich möchte auch nicht, dass er es erfährt.«
Zum ersten Mal bin ich froh, dass Papa Andreas nie mochte, denn die Galapagosschildkröte streckt unternehmungslustig den Kopf aus dem Kragen. Seine Augen blitzen, als er mir versichert: »Von mir erfährt er kein Wort.« Er tätschelt unbeholfen meine Schulter.
Enge Kuschelumarmungen sind meinem Vater ein Greuel. Am liebsten würde er mir wohl die Hand geben, aber er weiß, dass das zwischen Eltern und Kindern zu unpersönlich ist. Also täuscht er in der Regel eine Umarmung vor, in dem er auf mich zutritt, meine Nähe aber im letzten Moment mit einem stählernen Griff abwehrt und eine Art Luftumarmung inszeniert, zu der auch beidseitige Luftwangenküsse gehören.
Bevor ich hinter ihm die Tür schließen kann, dreht er sich noch einmal um. »Franzi, vielleicht versuchst du es mal mit einer Pro-und-Kontra-Liste?«
Seine Schritte hallen im Hof. Ich stehe am Fenster. Er dreht sich in der Einfahrt noch einmal um und hebt die Hand. Mama hat ihm immer nachgewinkt, wenn er zur Arbeit ging. Aber ich stecke meine Hände in die Hosentaschen und nicke nur.
Abends liege ich in meinem Bett und versuche meine tanzenden Gedanken zu choreographieren. Für wenige Sekunden war ich
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