Kleine Schiffe
unter den Augen, blutleere Lippen.
Tina redet weiter: »So schwierig kann es doch wohl nicht sein, eine Abtreibung vornehmen zu lassen, oder?«
Das ist der Moment, in dem ich das Handy abschalte.
In Berlin stromere ich zunächst ziellos durch den neuen Hauptbahnhof, der mich mit seinen verschiedenen Ebenen verwirrt. Hier ist es wärmer als in Hamburg. Selbst im Bahnhof ist das zu spüren.
Ich habe keine Ahnung, was ich als Nächstes tun soll. Ich will sehen, wohin mich der Tag treibt. Ich! Will! Wenn mich Andreas jetzt sehen könnte … Der wäre bestimmt überrascht, dass seine puschelige Ex-Ehefrau, die er offensichtlich vor allem mit »Makramee« und »Topflappen häkeln« verbindet, mit so viel Abenteuerlust durch die größte Stadt des Landes zieht.
Entschlossen nehme ich die S-Bahn zum Zoologischen Garten, aber dort steige ich nicht etwa aus, um zwischen Giraffengehege und Pavianfelsen in Familiennostalgie zu schwelgen, sondern nehme eine Bahn in Richtung Potsdamer Platz. Dort soll sich angeblich das Gesicht des neuen Berlin zeigen. Alle naselang sieht man den Platz in den Fernsehnachrichten: die Luxushotels dort und natürlich die Stars. So weltabgewandt, wie Andreas glaubt, bin ich gar nicht. Statt, wie Tina vorschlug, aufs Meer zu starren, werde ich das aufregende, pulsierende Großstadtleben zur Entscheidungsfindung nutzen. Alles anders! Alles so-gar-nicht-Franzi-mäßig.
Eine feuchte Schwüle liegt über der Stadt. Zwischen den Häusern steht die Luft, in der Bahn ist es heiß, die Sonne brennt auf den Fenstern. Ich komme an diesem Tag nicht bis zum Potsdamer Platz. Die U-Bahn ist hier überirdisch, die Schienen sind wie auf Stelzen gebaut, man rumpelt über den Autos durch die Straßen und kann ab und an sogar Blicke in Berliner Wohnstuben werfen. Im linken Bereich meines Abteils sitzt eine kleine Gruppe aufgeregter, festlich gekleideter Menschen. Alle erheben sich gleich nach der Haltestelle Nollendorfplatz wie auf Kommando und drängen zur Tür. Eine alte Frau mit gepflegter weißer Lockenfrisur und hellem Kostüm steht neben ihrem ebenfalls weißhaarigen Mann, der einen dunklen Anzug mit einer weißen Nelke am Revers trägt. Zu einem mittelalten Paar gehören mürrisch dreinblickende Teenager-Zwillinge von frappierender Ähnlichkeit. Die beiden Mädchen haben lange, blonde Haare und verströmen den Charme von schlechtgelaunten Rauschgoldengeln. Dass zu ihnen der kleine, alte Hund gehört, der in der hintersten Ecke des Abteils auf dem Boden schläft, bekomme ich erst mit, als die Gesellschaft an der Bülowstraße aussteigt und sich in Richtung Ausgang in Bewegung setzt.
Die alte Dame, die vorangeht, bleibt abrupt stehen. Ihre Stimme ist so laut, dass ich sie im Wagen höre: »Wo ist Anton?«
Als alle suchend zu Boden schauen, klickt es in meinem Kopf: Sie suchen den Hund!
Dann geschieht alles sehr schnell. Ich bewege mich, bevor ich wirklich denke. Rase in die Ecke, hebe den kleinen, aber erstaunlich gelassenen und sehr leichten Hund auf und springe im letzten Moment aus dem Zug. Hinter mir schließen sich die automatischen Türen mit einem lauten Knall. Während der Zug davonfährt, umringt mich die Familie mit aufgeregten Rufen. Der alte Mann nimmt mir behutsam den Hund ab, der jetzt wach ist und ihm hechelnd die Hand leckt.
»Vielen Dank!«, wendet sich die alte Dame an mich. »Es ist uns noch nie passiert, dass wir Anton vergessen haben!«
Ihr Mann lächelt wehmütig. »Weil Anton jünger war. Aber jetzt, im Alter …« Er zwinkert mir zu. »Da lässt das Gehör nach, die Reaktionsfähigkeit. Das ist bei Hunden nicht anders als bei Menschen.«
»Also, meine Reaktionsfähigkeit ist in Ordnung!«, mischt sich seine Frau resolut ein. Sie schenkt mir erneut ein freundliches Lächeln. »Vielen Dank noch einmal, junge Frau.« Sie tippt ihrem Mann auf den Arm. »Wir müssen jetzt los. Die warten mit dem Heiraten nicht auf uns.«
Der alte Herr nickt. Er holt eine Leine aus seiner Jackettasche und hakt die Öse in Antons rotes Lederhalsband ein. »Dann wollen wir mal. Vielen Dank.« Alle wiederholen den Dank, auch das mittelalte Paar. Sie winken mir zu, und sogar die Rauschgoldengel lächeln, als sich die Familie auf den Weg macht.
Ich bleibe allein auf dem leeren Bahnsteig zurück. In der Nähe beginnen Kirchenglocken zu läuten. Durch das Fenster am Ende des Bahnsteigs kann ich den roten Backsteinturm einer Kirche sehen, der sich über den Baumwipfeln erhebt. Einen Moment lang höre ich den
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