Kleine Schiffe
hinter sich her, schleppen ihre Reisetaschen, Mütter zetern ihre Kinder an, ein Teenie-Liebespaar knutscht, alte Leute drücken sich ängstlich durch die Menge und schlagen besorgt einen Bogen um Bettler, Junkies, Dealer und Obdachlose.
Ich überfliege die Tafel. An einem Städtenamen bleibt mein Blick hängen: Berlin! In zehn Minuten fährt ein Zug nach Berlin ab. Es erscheint mir wie ein Zeichen. Berlin! Ich war nur einmal dort – als kleines Mädchen von neun Jahren. In meiner Erinnerung war das der einzige Ausflug, der nicht Richtung Ostsee ging, wo wir die Ferien üblicherweise auf einem Campingplatz verbrachten.
Wir sind damals nach Berlin gefahren, um Bekannte meiner Eltern zu besuchen. Es war ein für mich zunächst äußerst langweiliges Treffen gewesen. Ich war das einzige Kind und saß schlecht gelaunt am Kaffeetisch. Aber dann gingen meine Eltern mit mir in den Berliner Zoo. Und dort geschah, was diesen Trip in der Familiengeschichte zu einer erinnerungswürdigen Geschichte machte. Mama und Papa verloren mich und fanden mich erst nach einer nervenaufreibenden Stunde wieder. Dabei hatte ich nur auf einer abgelegenen Bank in der schummerigen Dunkelheit des Nachttierzoos, von den ungewohnten Aufregungen des Tages übermannt, ein Nickerchen gehalten. Meine Eltern wähnten mich längst auf dem schönen großen Spielplatz und drehten fast durch, als sie mich in der Schar spielender, kreischender Kinder nicht entdecken konnten. Ich dagegen irrte nach dem Aufwachen erschreckt und heulend über das Gelände. Ein aufmerksamer Tierwärter griff mich bei den Seehunden auf und brachte mich zu meinen Eltern, die händeringend im Büro der Zooleitung saßen. Von der Zoo-Direktion bekam ich nach der glücklichen Familienzusammenführung ein Eis spendiert.
All das geht mir durch den Kopf, während ich eine Fahrkarte kaufe und zum Gleis hetze. Es erscheint mir mit einem Mal selbstverständlich, dass ich in Berlin die Antwort auf meine Fragen finde. Vielleicht werde ich auch einfach nur verrückt.
»Du bist … wo?«, klingt eine Stunde später Tinas verblüffte Stimme aus meinem Handy. Ich rühre appetitlos im Kakaobecher, der im Bordbistro vor mir steht, streife den von mir bestellten Apfelkuchen mit einem desinteressierten Blick und sage mit einer Lässigkeit, die gar nicht zu meinem seit der Abfahrt unruhig pochenden Herzen passt: »Im ICE nach Berlin.«
»Was willst du denn da? Und wie lange bleibst du?«
Meine nächste Antwort fällt schon wesentlich weniger bestimmt aus: »Keine Ahnung. Mach dir keine Sorgen. Ich muss nur einfach mal in Ruhe nachdenken.«
»In Berlin?« Tinas Stimme ist förmlich anzuhören, dass sie den Kopf schüttelt. »Fährt man dazu nicht eher an die See?«
»Wir sind doch nicht in einer Vorabendserie.«
»Aber das passt überhaupt nicht zu dir, Franzi!«, jammert Tina. »Ich erkenne dich nicht wieder. Diese Schwangerschaft bekommt dir nicht. Wir wollten doch heute zu Ikea fahren!«
Erschrocken versuche ich, mir mein schlechtes Gewissen nicht anmerken zu lassen, und improvisiere: »Deswegen rufe ich ja an. Das schaffe ich heute nicht. Entschuldigung.«
Jetzt ist Tina wirklich sauer. »Hör mal, das hattest du mir versprochen! Du kannst doch nicht einfach so absagen!«
Ich fühle, wie mich der Brechreiz packt. »Es tut mir leid, Tina«, quetsche ich hervor. »Mir ist total kodderig, ich muss …«
Tinas Sarkasmus ist auch durchs Telefon noch ätzend. »Natürlich, jetzt wird der armen Mami wieder schlecht. Wie passend!« Sie macht eine Pause, die ich dazu nutze, mit dem Handy am Ohr gegen die Fahrtrichtung zur Toilette zu schlingern. Ich nehme mir noch nicht einmal Zeit, das Telefon auszuschalten, lege es in das Waschbecken und habe das Gefühl, sogar den Apfelkuchen, den ich noch gar nicht gegessen habe, auszuspucken.
Danach greife ich wieder zum Handy. »Sorry, Tina, ich …«
Sie unterbricht mich kühl: »Das war akustisch sehr eindrucksvoll, Franzi, aber ich bin immer noch wütend. Außerdem: Das alles sollte dir doch wohl zeigen, dass du nicht geeignet bist, eine Schwangerschaft zu überstehen, geschweige denn ein Baby zu ertragen. Du drehst ja jetzt schon völlig durch, vergisst Verabredungen, versetzt deine beste Freundin und neigst neuerdings zu Kurzschlusshandlungen. Schau dich doch mal an!«
Obwohl sie mich doch gar nicht sehen kann, muss ich ihr recht geben. Im fahlen Licht der Zugtoilette sehe ich tatsächlich wie ein Gespenst aus. Gelbliche Haut, dunkle Schatten
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