Kleine Schiffe
heute? »Fromm« ist kein Wort, das in meinem Leben Platz hat. Ebenso wenig wie Gott.
Die Schlussformel meines Kindergebets verschmolz zu einem Wort. Amengutenacht. Meine Mutter wiederholte das »Nacht« noch dreimal und küsste mich bei jedem »Nacht« auf die Wangen und die Stirn. Danach wurde das Licht ausgeknipst, und ich schlief in dem Bewusstsein ein, dass der Zauberspruch Amengutenacht-nacht-nacht-nacht die Geister der Nacht in seinem Bann hielt. Ob ich wohl mit meinem Kind gebetet hätte?, frage ich mich nachts, wenn mich auch mein altes Kindergebet nicht rettet. Vielleicht liegt es an den fehlenden Küssen.
Als ich mich mit dreizehn Jahren über meine glatten Haare beschwerte und um eine Dauerwelle bettelte, sah meine Mutter mich traurig an. »Franziska, so wie du bist, so hat dich der liebe Gott gemeint.«
Wahrscheinlich hätte sie auch über Abtreibung in dieser Art mit mir diskutiert. »Wenn ein Leben entsteht, hat Gott es so gemeint – da dürfen wir Menschen nicht eingreifen.«
Ich starre in die Dunkelheit. Kann ich die Entscheidung für oder gegen das Kind allein treffen? Muss ich das nicht mit Andreas besprechen? In diesem Moment meiner Überlegungen verhärtet sich mein Herz, und ich höre Andreas’ letzte Sätze wieder: »Weißt du, Franziska, es ist schon gut, dass wir keine Kinder haben. Du bist so unselbständig – mit einem Kind wärst du doch völlig überfordert gewesen.« Und dann die Vernichtung: »Du willst zu wenig.«
Will ich wirklich zu wenig? Ich wälze mich unter der Decke unruhig auf die andere Seite. Im Moment weiß ich noch nicht einmal, was ich überhaupt will. Und erst recht nicht, was ich nicht will. Also springen meine Gedanken wieder ins Karussell und schleudern mich verzweifelt, hellwach und mit rasendem Herzen, durch die Nacht.
Am Ende dieser schlaflosen Woche finde ich mich am Samstagmorgen in einer Buchhandlung in der Innenstadt wieder. Getrieben von einer unbestimmten Unruhe bin ich ins Zentrum gefahren und dann nach einem unentschlossenen Bummel durch das luxuriöse Kaufparadies Alsterhaus in der Buchhandlung gelandet.
Eine Viertelstunde später fliehe ich kopflos aus dem Laden, ich bin erschlagen von den gefühlten acht Millionen Büchern zu den Themen Schwangerschaft und Kinderkriegen. Vom Schwangerschaftskalender für den werdenden Vater bis zum Ratgeber, wie man dauerkreischende Babys in den Schlaf wiegt, vom medizinischen Fotoband, der keine Fragen offenlässt und mich an die Auslage des Fleischers erinnert, über den betulichen »Unser-Spatz-ist-da«-Erfahrungsbericht im Eigenverlag mit schaurigen Knittelversen (»Hurra, Hurra, unser Spatz ist da! Da freut sich Mama, freut sich Paps, und Opa trinkt ein Gläschen Schnaps!«) bis zum esoterischen Babyhoroskop-Sammelband mit persönlicher Sternenkarte scheint es nichts zu geben, was es nicht gibt. Gleichgültig, welches Buch ich aufschlage, überall lächeln mich süße Babys an. Ein Anblick, der mir das Herz vor Glück und Trauer zusammenzieht.
Als zwei junge Mütter mit ihren nach Babyöl und Vanille duftenden Säuglingen an das Regal neben mich treten und nach einem Babykochbuch suchen, ist es um mich geschehen. Wie von Furien gejagt, sprinte ich die Rolltreppe ins Erdgeschoss hinab und werfe mich in den Strom der Wochenendshopper, die zwischen Hanse-Viertel und Binnenalster die Straßen verstopfen. Ich schlage den Weg zur Alster ein. Wenn man von der Alster spricht, denken Nicht-Hamburger an einen Fluss. Der fließt aber eher unsichtbar mitten durch die Stadt, denn er bildet dabei einen riesigen See, der vor fast tausend Jahren aufgestaut wurde. Damals wollte man eine Kornmühle damit betreiben, heute ziehen Jogger wie ferngesteuert ihre Runden um die Alster.
Um diesen See marschiere ich jetzt, als ob ich beim Hamburg-Marathon als Walkerin mitmischen wollte. Ich lasse die Kunsthalle links liegen und schaue eine Weile lang den Skateboardfahrern zu, die auf dem Vorplatz mit halsbrecherischen Sprüngen raffinierte Kurven fahren. Es sind junge wilde Männer mit kunstvoll aufgeschlitzten Jeans und weiten TShirts, die bald anfangen, mir nervöse Blicke zuzuwerfen. Halten sie mich für eine besorgte Mutter, die gleich ihren Sohn vom Board zieht? Oder für eine von der Menopause geschüttelte Single-Frau, die hier einen One-Night-Stand klarmachen will?
Abrupt gehe ich weiter. Und dann finde ich mich unversehens in der Wandelhalle des Hauptbahnhofs vor der Abfahrt-Tafel. Um mich herum zerren Reisende Trolleys
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