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Kleine Schiffe

Kleine Schiffe

Titel: Kleine Schiffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Schuetze
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Glocken zu und dann – ich könnte nicht sagen, warum – verlasse auch ich den Bahnhof, gehe die Treppen hinunter, auf die andere Straßenseite und folge Anton und seiner Familie.
    Unter der U-Bahn-Brücke gehe ich ein Stück an einer stark befahrenen Straße entlang. Hässliche Neubauten wechseln sich mit verwohnten alten Häusern ab, denen man ansieht, dass sie bessere Zeiten erlebt haben. Obwohl die Gegend weit entfernt ist von urbanem Schick oder gar städtebaulicher Romantik, wirkt sie nicht abweisend. Vor einer Kneipe sitzen alte, südländisch aussehende Männer. Sie rauchen, trinken Tee und diskutieren angeregt. Ein böiger Wind treibt Papierfetzen, Plastiktüten und altes Laub vor sich her. Am bedeckten Himmel ballen sich jetzt dunkle Wolken. Die alten Männer räumen ihre Stühle unter eine Markise. Vor der Kirche versammelte Menschen eilen in den Turmeingang, der auch Antons Familie verschluckt. Der Regen prasselt genau in dem Augenblick los, als ich das Portal erreiche.
    Vorsichtig drücke ich die Tür auf und trete dabei fast der Braut auf die Schleppe, die gerade am Arm des Bräutigams in die Kirche einzieht. Erschrocken bleibe ich zurück und gleite möglichst unauffällig in die letzte Bank.
    Als sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt haben, entdecke ich »meine Familie« aus dem Abteil in einer der vorderen Reihen. Zwischen den Rauschgoldengeln steht eine Tasche, aus der Antons Köpfchen lugt. Er hat ihn auf den Rand gelegt und ist bereits wieder eingenickt.
    Während die Orgel erklingt und die Gemeinde singt, tauche ich ein in die friedliche, fast schläfrig gelassene Stimmung, nach der ich mich seit Nächten gesehnt habe. Hier, in dieser Kirche, als Zaungast bei der Hochzeit wildfremder Menschen, finde ich zum ersten Mal die Ruhe, über meine Situation nachzudenken. In der Obhut des Gottesdienstes gelingt es mir, die Gedanken endlich zu einer Pro-und-Kontra-Liste zu ordnen. Auf der Kontra-Seite steht: allein, vierundvierzig Jahre, zu spät, keine Unterstützung durch die Familie und den Freundeskreis. Auf der Pro-Seite steht: Erfüllung meines größten Herzenswunsches.
    Vorn liest der Pastor aus der Bibel. Und mit einem Mal dringen seine Worte in mein Bewusstsein. »Da sprach der Herr: In einem Jahr komme ich wieder zu dir, dann wird deine Frau Sara einen Sohn haben. Sara hörte am Zelteingang hinter seinem Rücken zu. Abraham und Sara waren schon alt; sie waren in die Jahre gekommen. Sara erging es längst nicht mehr, wie es Frauen zu ergehen pflegt. Sara lachte daher still in sich hinein und dachte: Ich bin doch schon alt und verbraucht und soll noch das Glück der Liebe erfahren? Auch ist mein Herr doch schon ein alter Mann! Da sprach der Herr zu Abraham: Warum lacht Sara und sagt: Soll ich wirklich noch Kinder bekommen, obwohl ich so alt bin? Ist beim Herrn etwas unmöglich?«
    Wie Sara in der biblischen Geschichte muss ich unwillkürlich lächeln und höre jetzt gespannt zu, wie es weitergeht. Der Pastor liest: »Der Herr nahm sich Saras an, wie er gesagt hatte, und er tat Sara so, wie er versprochen hatte. Sara wurde schwanger und gebar dem Abraham noch in seinem Alter einen Sohn zu der Zeit, die Gott angegeben hatte. Abraham war hundert Jahre alt, als sein Sohn Isaak zur Welt kam. Sara aber sagte: Gott ließ mich lachen; jeder, der davon hört, wird mit mir lachen.«
    Als sich die Gemeinde zum Gebet erhebt, schlüpfe ich aus der Kirche. Draußen hat sich der Himmel aufgeklärt, eine fahle Sonne steht über den schmuddeligen Häusern. Grau-und Brauntöne dominieren, selbst das Grün der Bäume wirkt blass. Trotzdem liegt ein prickelnder Duft über allem, eine mir unbekannte Mischung aus abgeblühten Bäumen und einem schwer definierbaren Geruch, der mich an Steine und Sand denken lässt und mir gut gefällt. Wahrscheinlich ist das die legendäre Berliner Luft.
    Der Regen hat sich verzogen, nur die Pfützen auf dem Kopfsteinpflaster des Kirchenvorplatzes erinnern an den Wolkenbruch. Die Luft hat sich etwas abgekühlt, aber es ist noch angenehm warm. Ich schlendere über den Platz auf längliche Betonblöcke zu, die wie Bänke um den Platz gruppiert sind. Gegen die Feuchtigkeit lege ich als Sitzunterlage meine Jacke auf einen Block und setze mich. Aus meinem Blickwinkel spiegelt sich die Kirche in einer großen Pfütze.
    Drei Kinder mit dunklen Haaren und dunklen Augen tauchen auf: zwei Jungen in Jeans und bunten TShirts, die ich auf sieben oder acht Jahre schätze, und ein Mädchen

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