Kleine Schiffe
von vielleicht fünf Jahren in einem rosafarbenen Kleidchen. Alle drei tragen bunte Gummistiefel an den Füßen, was sie wie Kobolde aussehen lässt. Der größere Junge hält eine Plastiktüte in der Hand. Die drei hocken sich um die größte Pfütze, und der Junge nimmt viele kleine, aus Papier gefaltete Schiffchen aus der Tüte. Einige tragen Beschriftungen, anderen sieht man an, dass sie bereits lange im Einsatz sind: oft nass geworden, wieder getrocknet und zurechtgebogen. Die Kinder sind begeistert, als ein sanfter Wind die kleinen Schiffe über die Pfütze treibt. Ich betrachte die Boote, und in meinem Kopf formt sich der Text von Mamas Lieblingsgedicht. Es ist, als ob ich ihre Stimme höre, wie sie leise sagt: »Kleine Schiffe, weiß und leicht erbaut;/Und in Träumen seiner lichten Weite/Sinkt der Himmel wolkenüberblaut.«
Obwohl der Dichter mit diesen Zeilen sicherlich nicht den graublauen Himmel über Berlin gemeint hat, fühle ich mich wieder wie damals als Kind, wie eins der kleinen Schiffe. Doch heute bin ich zart, zerbrechlich und dem Wind ausgeliefert. Und gleichzeitig spüre ich Sehnsucht in mir: Sehnsucht nach Mama, nach der Geborgenheit einer Familie, so wie damals im Zoo, als mich meine Eltern wiederfanden.
Wie ein starkes körperliches Gefühl, wie ein Kälteschauer oder eine Fieberwelle steigt ein Wunsch in mir hoch. Und mir wird unvermittelt klar: Ich will dieses Kind. Allen vernünftigen Argumenten, allem Verstand zum Trotz. Völlig ruhig bin ich mit einem Mal. Ruhig und sicher.
Die Kirchentür geht auf, und das Brautpaar tritt vor das Portal. Die Kinder unterbrechen ihr Spiel und laufen nach vorn. Erst jetzt sehe ich, dass eine kleine Musikkapelle mit Akkordeon, Bass und Gitarre ebenfalls aufmarschiert ist. Ein Walzer erklingt, das Brautpaar dreht sich im Kreis, die Menschen, die aus der Kirche strömen, applaudieren. Sehr weit hinten erblicke ich Antons Familie, der Hund wird jetzt von dem alten Herrn gehalten, der über das ganze Gesicht strahlt.
Ich stehe auf und gehe im Sonnenschein über die Straße. Als ich ein letztes Mal zurückblicke, schwimmen noch immer die kleinen Schiffe auf der Pfütze.
Zum ersten Mal seit Tagen habe ich Hunger. Ich schlendere eine Straße entlang, die mich zur Potsdamer Straße führt. Vom eleganten Stil des Potsdamer Platzes ist hier nichts zu spüren, aber das ist mir gleichgültig. Ich fühle mich wie von innen erleuchtet, lächele mir entgegenkommende Menschen an und schreite durch dieses heruntergekommene Viertel, als wäre es mein Königreich.
Ich werde Mutter! Mit einem Mal fühlt sich mein Körper wertvoll, kostbar und sehr schützenswert an.
Ein würziger Bratenduft zieht mich in ein grellgelb gestrichenes Lokal namens »Pascha 5«. Zweifellos ein Ort, den Tina nur mit Gummihandschuhen und Mundschutz betreten würde. Aber mich lockt die Kreideschrift auf der einfachen Tafel: »Dorade vom Grill«. Frisch gegrillter Fisch! Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Und so sitze ich in dem kleinen türkischen Imbiss, ziehe die kross gebratene Fischhaut vom Fleisch, lasse es mir schmecken und fühle mich wie neugeboren. Denn mir wird nicht übel.
Nach dem Essen schlendere ich zur U-Bahn zurück, fahre zum Hauptbahnhof und nehme den nächsten Zug nach Hamburg. Ich denke an das Gefühl, als ich meine Eltern damals im Berliner Zoo wiedergefunden hatte. Mama drückte mich fest an sich, Papa nahm mich auf den Arm, obwohl ich dafür schon zu groß war. Wir lachten, und Mamas und Papas Arme waren der sicherste Platz der Welt. Dieses Glücksgefühl hat die ganzen Jahre in Berlin auf mich gewartet!
Ich habe fest vor, es nicht wieder zu verlieren …
Bevor ich es mir auf meinem Sitz in dem fast leeren Zug bequem mache, rufe ich Tina an und teile ihr mit: »Du wirst Patentante!«
Danach schalte ich das Handy wieder aus und schlafe tief und fest, bis der Zug in den Hamburger Bahnhof einfährt.
6. Kapitel
Einmal im Leben kann man etwas fühlen
und später im Leben
werden wir uns fragen
was da los war
und wo es hin ist.
Bernd Begemann: »Wir sind fünfzehn«
V on da an sieht meine Welt völlig anders aus. Zum einen schlafe ich seit der Berlinfahrt wieder tief und fest – und muss dazu noch nicht einmal ein Kindergebet bemühen. Zum anderen haben mein Vater und Tina geschluckt, dass ich Mutter werde. Keiner von ihnen ist in lautstarken Jubel ausgebrochen, aber das hatte ich auch nicht erwartet.
»Oha, du hast ja Mut«, sagte mein Vater, als ich ihm bei
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