Kleine Schiffe
jäh ausstoße: »Ich kann es spüren! Das ist mein Baby!« Ich halte meinen Bauch und weine und lache in einem.
Lilli und mein Vater kommen zu mir. Beide legen ihre Hände auf meinen Bauch und fühlen angestrengt. Nichts. Immer noch nichts.
»Komm schon, Willy!«, flüstere ich. Nach weiteren Sekunden des Wartens gebe ich achselzuckend auf. »Vorführeffekt. Typisch.«
Doch ich sollte meinen Nachwuchs nicht unterschätzen. Als ich mich gerade wegdrehen will, quiekt Lilli: »Nee, da ist was!«
Auch ich spüre es jetzt wieder. Mein Vater zieht seine Hand weg, und legt stattdessen seinen grauen Kopf auf das weiche rosafarbene T-Shirt über meinem Bauch. Er nickt. Und dann, genau in dem Moment, als ich wieder das Hochblubbern in meinem Bauch spüre, höre ich ihn deutlich sagen: »Hallo, Kleines!«
Auch Tina wird von Lilli im Sturm erobert. Schon der erste gemeinsame Abend mit uns dreien ufert in eine Musikorgie aus – Lillis MP3-Player und Tinas iPod sind unablässig in Betrieb. Lilli mag die Musik, die in Tinas Jugend modern war. Für Lilli sind die Ramones, Velvet Underground, sogar Queen »voll krass retro«, und Tina schwelgt in Erinnerungen. Wenn sie nicht zusammenhocken und Musik hören, spielt sich Tina gern als mütterliche Beraterin auf, die Lillis dümpelnde Tätigkeit als Friseurin auf feste Füße stellen will.
»Du muss doch nicht für immer in irgendeinem Salon das Programm Waschen-Föhnen-Legen abspulen«, hält sie Lilli vor, schleppt Informationsbroschüren der Industrie-und Handelskammer ins Haus, stellt für Lilli den Kontakt zu einem der teuersten Friseursalons in der Stadt her und verspricht, sich bei ihren Patienten umzuhören, die in der Fernsehbranche arbeiten. »Du kannst doch noch eine Zusatzausbildung machen und dann als Maskenbildnerin für Theater oder Fernsehen arbeiten!«
Lilli strahlt ihr Pfirsich-Lächeln, und vor dem Zubettgehen flüstert sie mir zu: »Was Tina mir alles zutraut! Voll krass!«
Mit Lilli beginnt in meinem Haus ein völlig neues Leben. Obwohl ich anfangs unsicher war, ob ich mit ihren Freunden auskommen würde, muss ich doch zugeben, dass die meisten völlig in Ordnung sind. Zumindest, wenn sie einzeln auftauchen. Zu mehreren verwandeln sie sich manchmal in eine anstrengende Schulklasse, die einzig und allein auf ihre eigene Gruppendynamik konzentriert ist. Dann drapieren sich fünf oder sechs von ihnen leicht gelangweilt um den Küchentisch, plündern unsere Vorräte und traktieren einander mit spitzen Bemerkungen, die sie als »Witze« tarnen. Dagegen sind sie erstaunlich verständnisvoll, wenn ich um mehr Ruhe bitte, und so manches Mal überrasche ich Tarek dabei, wie er neue Keksdosen oder Konserven in der Speisekammer verstaut.
Lilli ist ein Menschenmagnet. Überall trifft sie »irre nette Leute«, die dann umgehend zu uns eingeladen werden. Zuerst finde ich es ziemlich befremdlich, dass fast immer Menschen im Haus sind, wenn ich nach Hause komme. Allerdings werde ich in meinem Zimmer in Ruhe gelassen, und alle respektieren diesen Raum.
Ich lerne, mich zurückzuziehen. Und ich lerne, mich nicht immer zurückzuziehen, sondern zu genießen, dass ich nicht allein bin. Sogar an nächtliche Überfälle von Lillis Freunden gewöhne ich mich. David erscheint häufig nach Mitternacht – dann höre ich leise Musik aus Lillis Zimmer. Manchmal frühstücken wir zu dritt, und ich merke, dass David hinter seiner aufgesetzten Lässigkeit ein freundliches Wesen verbirgt. Was mir allerdings gar nicht gefällt, sind seine Unzuverlässigkeit und sein Drogenkonsum.
Auf meine Frage, was David nimmt, sagt Lilli lachend: »Frag lieber, was er nicht nimmt!« David hat Geld und versucht in einem zweiten Anlauf, sein Abitur zu machen. Er kommt und geht, wann er will, und so oft, wie Lilli glücklich ist, ist sie auch traurig. Obwohl sie gern so tut, als ob es ihr nichts ausmacht.
Eines Tages bekommt Papa mit, wie Lilli von David versetzt wird. Sie geht mit einer kecken Bemerkung darüber hinweg. »Tja, Männer! Man kann sie nicht erschießen, aber mit ihnen leben ist auch unmöglich!« Aber dann verzieht sie sich leise und gedrückt in ihr Zimmer. Und Elvis singt in diesen Fällen regelmäßig »Love me tender«.
Papa wirft mir einen zweifelnden Blick zu. »Hoffentlich tut ihr dieser David nicht allzu weh.« Dann ergänzt er: »Arme Lilli: große Klappe, kleines Mädchen.«
Lilli ist jemand, der in das Leben von anderen Menschen fällt wie das lange gesuchte Puzzlestück,
Weitere Kostenlose Bücher