Kleine Schiffe
würdigen kann, weil eine Schwester an ihn herantritt.
»Sie machen hier schön weiter, Frau Funk«, sagt Fohringer nach einer kurzen Unterredung mit ihr. »Ich sehe mir mal an, was sich bei Ihrer Mitbewohnerin nebenan so tut.« Zu Tinas Bedauern verlässt er das Zimmer.
»Meine Güte, musst du denn sogar bei der Geburt deines Patenkindes wie eine Weltmeisterin flirten?«, zische ich Tina zu.
Die zuckt nur mit den Schultern. »Nur keinen Neid!«
Gleich darauf habe ich für derartige Kabbeleien keine Kraft mehr. Die Wehen kommen in Abständen von zwei bis vier Minuten und halten sechzig bis neunzig Sekunden an. Ich habe das Gefühl, als würden sie mich ununterbrochen überrollen.
Während ich gegen die Schmerzen kämpfe, erinnere ich mich, gelesen zu haben, dass der Weg durch den Geburtskanal die gefährlichste Reise ist, die ein Mensch jemals unternimmt. Ich wünsche meinem kleinen, unbekannten und schon intensiv von mir geliebten Passagier eine sichere Durchfahrt.
Zwischen zwei Wehen erscheint manchmal Andreas’ Gesicht vor mir – ich wünschte, er wäre hier. Aber dann verschwimmt sein Gesicht wieder, und ich schaue in Tinas Augen, die mich aufmunternd ansehen. Tina bewährt sich trotz ihrer anfänglichen Panikreaktion als souveräne Geburtshelferin. Sie hilft mir atmen, stützt mich bei den Presswehen, und sie ist es auch, die mir mitteilt: »Ich sehe den Kopf!«
Willy kommt zur Welt. Nicht so schnell, wie ich mir vorgestellt habe, sondern langsam. Erst der Kopf. Eine Wehe! Dann eine Schulter. Noch eine Wehe! Und noch eine! Die zweite Schulter. Jetzt endlich rutscht mein Baby hinaus und wird mir klein, glitschig, verknautscht, froschartig, hässlich und einzigartig auf den Bauch gelegt.
»Willy«, murmele ich dem verschmierten Wesen zu.
Nina und Tina lachen. »Franziska«, sagt Nina dann, »du musst jetzt sehr tapfer sein!«
Erschrocken reiße ich die Augen auf und versuche mein Kind anzusehen, das inzwischen unter einem weißen Tuch auf mir liegt. »Wieso?«, frage ich nervös und suche Tinas Blick.
Sie lächelt mir beruhigend zu. »Alles gut, Franzi. Nur …«
Nina beendet den Satz: »Dein Willy ist ein Mädchen!«
»Ein Mädchen?« Wieder versuche ich mein Kind genauer anzusehen, und diesmal gelingt es, weil Nina es ein wenig höher schiebt. Ich blicke in das kleine Gesicht, sehe die zarten Nasenflügel, die flaumweichen, kaum sichtbaren Augenbrauen, die sanft gerundeten Wangen und verliebe mich mit einer mir bislang unbekannten Kraft in meine Tochter. »Ist sie nicht wunderschön?«, flüstere ich, während mir die Tränen über das Gesicht laufen und ich keinerlei Schmerzen mehr verspüre. Sondern ein Glück, das so groß ist, dass es eigentlich gar nicht mehr in mich hineinpasst.
»Wie soll sie denn heißen, deine Kleine?«, fragt Nina.
Tina ergänzt: »Willy geht ja nun nicht mehr, oder?«
Ich schaue noch einmal in das Gesicht meiner Tochter. Dann spreche ich den Namen aus, den Andreas und ich uns vor langer Zeit gemeinsam ausgesucht haben. »Sie soll Amélie heißen!« Und schon heule ich los.
Mitten in meinem überwältigenden Glücksgefühl überfällt mich eine große Traurigkeit darüber, dass Andreas in diesem Augenblick nicht bei mir ist. Ich lache und weine gleichzeitig. Auch Tina lacht und wischt sich die Tränen vom Gesicht.
Amélie regt sich ein wenig, aus ihrem Mund kommt ein krächzendes Quaken. Ich küsse das Baby auf sein Köpfchen und sage: »Hallo, Entchen.«
Wie hatte meine Mutter gesagt? »Manches kann man sich nicht vorstellen, manches muss man selbst erleben.« Obwohl ich verstanden habe, was sie meint, habe ich es doch bislang nie richtig begriffen . Die Schmerzen und die Ängste sind nichts gegen das Gefühl, das eigene Kind im Arm zu halten – dieses Gefühl lässt sich mit Worten nur unzulänglich beschreiben. Ich habe mich noch nie mehr eins mit mir, mit der Welt und dem Leben gefühlt als in diesem Moment.
Viel später taucht mein Vater auf – erst nach der Abnabelung, der Nachgeburt und all dem, was zu einer Geburt gehört und was ich wie unter einem Schleier aus Glück und Erschöpfung erlebe. »Es tut mir leid, Franzi«, hüstelt es aus seinem Kragen heraus, während er ehrfürchtig und aus gebührendem Abstand seine Enkelin bestaunt. »Mir wurde vorhin so schwummerig, und dann habe ich lieber in der Cafeteria gewartet.«
»Sie soll Amélie heißen«, sage ich.
Er sieht mich erstaunt an. »Amélie?«
»Na, Willy kann ich sie ja wohl kaum
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