Kleine Schiffe
nennen.«
»Amélie, Amalia, Amelia, Amélie.« Ein Lächeln leuchtet aus dem Rollkragen, und er schluckt schwer. Auch Papa ist gerührt! Unsicher tauschen wir einen Blick und schauen dann beide schnell weg. In so etwas haben wir keine Übung.
Mir laufen schon wieder die Tränen über das Gesicht.
»Das ist ja furchtbar«, stöhnt Tina und wischt sich verstohlen über die Wangen. »Wie viele Stunden hintereinander kann man eigentlich dauergerührt sein?«
Papa schneuzt sich. »Das ist erst der Anfang, Tina. Mit einem Kind hat man ständig nahe am Wasser gebaut.« Er setzt sich vorsichtig zu mir aufs Bett und sieht auf Amélie hinunter. Dann sagt er leise: »Deine Mutter und ich haben in den ersten Wochen andauernd geweint. Und auch später gab es immer wieder neue Anlässe: Als du das erste Mal allein Karussell gefahren bist, das erste Mal in den Kindergarten gegangen bist.« Ihn überwältigen die Erinnerungen – er greift wieder zum Taschentuch. Dabei fällt ihm etwas ein. Aus seiner Manteltasche holt er ein flaches, in Seidenpapier geschlagenes Päckchen. »Hier, herzlichen Glückwunsch.« Ich packe es aus und traue meinen Augen nicht. Es ist ein leuchtend grünes Seidentuch – es ist wunderschön. Fragend blicke ich Papa an. Ihm ist meine Begeisterung sichtlich unangenehm, aber sie freut ihn auch. »Wie bist du denn darauf gekommen?« Papa lächelt wissend. »Weißt du, du wirst jetzt erleben, dass du dauernd Geschenke für das Baby bekommst. Spielzeug, Klamotten. Da dachte ich, es wäre vielleicht schön, dir etwas zu schenken, das nur für dich ist.« Ich habe schon wieder Tränen in den Augen. Es klopft an der Tür, und Simon steckt seinen Kopf herein.
Ich kann meine Augen kaum von Amélie losreißen, die Nina mir inzwischen an die Brust gelegt hat. Allerdings will sie gar nicht saugen.
»Das üben wir noch«, sagt Nina lächelnd. »Viele Babys wollen nach der Geburt erst mal schlafen.«
Simon sieht genauso mitgenommen aus wie wir alle. Seine Haare sind wirr, sein Hemd ist zerknittert, und es hat den Anschein, als hätte auch er geweint. Mein Vater mustert ihn neugierig. »Na, junger Mann, alles im Lot?«
Es stellt sich heraus, dass Simon Lilli bei der Geburt begleitet hat. »Sie hat mir fast die Hand zerquetscht«, erzählt er mit stolzem Grinsen. »Und geflucht wie ein Kesselflicker. Der Arzt war von ihrem Vokabular sehr beeindruckt.«
Tina schaltet sich ein: »Wo ist eigentlich der Herr Doktor? Er hat Amélie nur kurz angesehen, aber dann ist er auf und davon. Wahrscheinlich ein Notfall.« Sie lächelt bedauernd, aber anerkennend. »Ein nobler Mann. Immer im Dienst!«
»Das denken Sie!«, widerspricht Nina. »Dr.Fohringer ist zwar in der Tat ein großartiger Arzt, aber er hat heute Abend keine Geburt mehr, sondern – Opernkarten!« Und dann schiebt sie mit vorgetäuschter Beiläufigkeit nach: »Mit seiner Frau.«
»Simon, spann uns nicht auf die Folter«, bettele ich. »Wie sieht Elvis aus?«
Simon ist anzusehen, dass er es genießt, uns noch ein wenig zappeln zu lassen. Er hebt die Schultern, presst grinsend die Lippen zusammen und holt aus seiner Brusttasche zwei kleine gefaltete Schiffe und einen Stift. »Ist es eigentlich bei Willy geblieben?«
Ich strahle ihn an. »Du darfst meine Tochter Amélie begrüßen.«
Lauthals lacht Simon auf. »Noch ein Mädchen?«
Irritiert wechseln wir anderen Blicke, während Simon mit großem Ernst säuberlich den Namen »Amélie« auf eines der Schiffchen schreibt.
»Was ist nun mit Elvis und Lilli?«, frage ich noch einmal.
Simon nimmt das zweite Schiffchen und schreibt etwas darauf. Dann stellt er beide auf meinen Nachttisch. Tina und Nina versuchen die Schrift zu entziffern. Aber das ist nicht mehr nötig.
»Mutter und Kind sind wohlauf!«, verkündet Simon. »Elvis ist da. Aber er heißt Lisa-Marie!«
9. Kapitel
Heute Morgen war ich auf der Straße
merkte plötzlich, dass ich lebte
und ich fühlte mich grundlos glücklich
ich wusste, mein Leben ist wichtig.
Bernd Begemann: »Lebendig begraben«
L illi weiß nicht, wie sie auf Lisa-Marie gekommen ist. »Der Name war da, als ich sie zum ersten Mal sah. Und es ist ein schöner Name, sonst hätte Elvis Presley ja wohl kaum seine Tochter so genannt.«
Wir sind in einem Zweibettzimmer untergebracht worden. Es ist zwar erst Dienstag, aber der Sonntag mit der Linzer Torte scheint schon Jahre hinter mir zu liegen: Damals war ich noch keine Mutter. Damals waren wir noch zu zweit – wenn wir jetzt
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