Kleine Schiffe
mein Herz so?
Elvis singt unverdrossen weiter. Mittlerweile füllt er mit »Honky Tonk Angel« die Küche. »When was the last time you kissed me/And I don’t mean a touch now and then/It’s been a long time since you felt like my woman/And even longer since I felt like your man.«
Andreas und ich starren uns an. Ich sehe, wie sein Mund ein »Hallo« formt, und auch ich sage »Hallo«, aber unser Gruß geht im Gelärme unter. Wir zucken beide zusammen, als Rudi aufspringt und Helmut anmosert: »Du musst dich an die Regeln halten! Ich kann doch nicht wissen, dass du Pik lang hast!«
Papa nimmt seine Karten auf, setzt sich zu seinen Freunden und sagt: »Man kann nicht immer nach den Regeln spielen.« Lisa-Maries Gejaule steigert sich zum hysterischen Geplärr. Lilli versucht sie zu trösten. Auch Amélie fängt jetzt an zu weinen. In dieses Durcheinander stapft Simon – nur mit einem Handtuch um die Hüften, mit nassen Haaren und Wut im Bauch. Er rennt zur Anlage und dreht Elvis die Luft ab. »Das ist hier ja wie im Irrenhaus!«
Er übersieht Andreas, der halb verdeckt in der Küchentür steht und mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck das Treiben in der Küche beobachtet.
Während Rudi und Helmut immer noch grummelnd über den Karten sitzen und uns ignorieren, baut sich Simon vor mir auf. Er gibt mir einen Kuss auf die Nase, legt seine Arme um mich und fragt: »Franzi, meine Süße, wo sind meine Jeans? Ich schrei mir da oben die Seele aus dem Leib!« Mich zu küssen, obwohl ich stocksteif bleibe, scheint seine Laune zu besänftigen. Er tritt zurück und öffnet in gespielter Tragik die Arme. »Könntest du mir vielleicht auch verraten, ob es in diesem Haus noch Unterwäsche für mich gibt? Ich kann doch nicht den ganzen Tag hier im Lendenschurz herumlaufen, Schmusi.«
Lilli kichert, als er neckisch so tut, als ob er das Handtuch öffnen wollte. Ohne Simons kleine Scharade zu beachten, hält mir Papa die mittlerweile laut jammernde Amélie hin. »Franzi, übernimm du mal!« Bei den letzen Worten kreuzen sich Andreas’ und meine Blicke. Jetzt habe ich keinerlei Schwierigkeiten, seinen Gesichtsausdruck zu deuten: Andreas ist fassungslos – und sehr ärgerlich. Schnell senke ich den Blick und greife an Simons ausgebreiteten Armen vorbei, um Papa das Kind abzunehmen.
Amélie hört sofort auf zu weinen, und mit einem Schlag ist es still in der Küche. Simon versucht, den Arm um mich zu legen, wobei sein Handtuch nun wirklich fast von der Hüfte rutscht. Er küsst Amélie aufs Köpfchen, sie greift in seine Haare. »Also, Liebling, wo ist meine Jeans?«
Bevor ich antworten kann, sagt Andreas mit schneidender Stimme: »Franziska, ich muss jetzt gehen. Und zwar so-fort! Auf Wiedersehen!«
Diese Stimme kenne ich: Das ist der Chefanästhesist-scheißt-unfähiges-Krankenhauspersonal-zusammen-Ton. Mich hat er in unserer Ehe nur selten mit dieser Stimme angesprochen. Aber wenn er es tat, dann ging es um elementare Dinge: ob wir ein Haus kaufen (ich war dafür, er dagegen – er setzte sich durch), ob wir ein Boot anschaffen (er war dafür, ich dagegen – er setzte sich durch) oder ob wir ein Kind adoptieren sollten (ich war dafür, er dagegen – er setzte sich durch).
Auch heute duldet dieser Tonfall keinen Widerspruch, vor allem, weil er mit einem äußerst kritischen Blick in meine Richtung verbunden ist. Andreas mustert mich mit offensichtlichem Missfallen – und wieder wird mir mein schlampiges Outfit bewusst: das ausgeleierte T-Shirt, die ausgebeulte Pyjamahose, die bloßen Füße. Ich bin der Prototyp der verhuschten, überforderten Mutter.
Simon dreht sich verwundert um. »Huch, wer sind Sie denn? Ich hab Sie gar nicht gesehen.« Beschützend fügt er den Nachsatz hinzu: »Und warum schreien Sie Franziska so an?«
Jetzt reden alle gleichzeitig. Papa blökt: »Du hattest noch nie Manieren, Andreas!«
Lilli fragt: »Ja, wer sind Sie eigentlich? Etwa von der Kirche?«
Ich sage: »Das ist Andreas. Mein Ex-Mann.«
Das ist der Moment, in dem die Milch zischend überkocht. Innerhalb von wenigen Sekunden durchzieht der verbrannte, unangenehme Geruch die Küche. Ich schiebe den Topf mit der linken Hand vom Ceranfeld, was gar nicht so einfach ist, weil ich Amélie auf dem Arm habe. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Andreas sich umdreht und aus der Tür marschiert. Ich drücke Simon das Baby in den Arm und renne hinter ihm her. Erst am Gartentor erwische ich ihn und versuche ihn festzuhalten.
Andreas
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