Kleine Sünden erhalten die Liebe
Besuch abstatten.«
Diesel tippte eine Nummer in sein Handy und bat um Hilfe beim Auffinden von Reedys Studentin. »Ich werde in einer Stunde in Cambridge sein«, erklärte er. »Versuch, ein Treffen mit ihr zu vereinbaren. Außerdem möchte ich mich gern in Reedys Büro umsehen.«
»War das deine Assistentin?«, fragte ich ihn, nachdem er aufgelegt hatte.
»Mehr oder weniger.«
In der kurzen Zeit, in der ich Diesel kannte, hatte er bereits sechs verschiedene Assistentinnen gehabt. Ich versuchte inzwischen nicht mehr, mir die Namen zu merken. Sie sind alle gesichtslos, lediglich Stimmen, die aus der Freisprechanlage des Autotelefons schallen und dank des Wunders von Bluetooth an Diesels Ohr gelangen.
Wir fuhren auf der 1A nach Boston. Die Landschaft war zuerst sehr interessant und wurde dann hässlich. Überall waren Schlaglöcher, und aggressive Fahrer rasten wie verrückt über das Autobahngewirr.
In der Stadt bogen wir auf den Storrow Drive ab, der am Ufer des Charles River entlangführte. Die linke Seite der Straße war gesäumt von vierstöckigen Backsteinhäusern, hinter denen sich Bostons Hochhäuser erhoben. Rechts erstreckten sich ein schmaler Grünstreifen und ein Fahrradweg. Einige Leute strampelten den Radweg entlang, und ein paar Abgehärtete trieben in Segelbooten auf dem Fluss dahin. Wir fuhren an einer leeren Konzertmuschel und an einigen Dixi-Klos vorbei, die vom Wochenende übrig geblieben waren. Diesel fuhr zum Ende des Storrow Drive und bog dann auf die Brücke ab, die über den Charles River nach Cambridge führt. Jetzt befand ich mich auf fremdem Terrain. Seit ich nach Marblehead gezogen war, hatte ich bereits einige Ausflüge in die Innenstadt von Boston gemacht, aber ich war noch nie über den Fluss nach Cambridge gefahren.
»Du scheinst dich hier auszukennen«, bemerkte ich.
»Vor zwei Jahren habe ich hier mal nach jemandem gesucht«, erklärte Diesel.
»Hast du ihn gefunden?«
»Ja.«
»Und?«
Diesel blieb an einer Ampel stehen. »Das ist schwer zu beantworten.«
»Du hast ihn doch nicht umgebracht, oder?«
»Ich bringe niemanden um.«
»Hast du ihn in eine Kröte verwandelt?«
Diesel warf mir einen Blick zu und grinste.
Ich war mir nicht sicher, was dieses Grinsen bedeutete, und ich war mir auch nicht sicher, ob ich das überhaupt wissen wollte, also starrte ich aus dem Fenster auf die vorbeifliegenden Gebäude. Auf den Gehsteigen tummelten sich Studenten. »Sind wir gerade an Harvard vorbeigefahren?«, fragte ich.
»Nein«, erwiderte Diesel. »Das war die Technische Hochschule MIT. Harvard liegt ein paar Meilen weiter an der Massachusetts Avenue.«
Die Massachusetts Avenue war eine vierspurige, vielbefahrene Straße, die von Apartmenthäusern, Ladengeschäften und Hotels gesäumt wurde.
Diesels Telefon klingelte, und eine weibliche Stimme meldete sich. »Julie Brodsky wird sich mit dir im Barker Center in der Quincy Street 12 treffen. Ich habe ihr gesagt, du wärst Daniel Crowley, Reedys Cousin aus Chicago.«
»Prima«, sagte Diesel. »Danke.« Er legte auf.
»Wo wohnt deine Assistentin?«, wollte ich wissen.
»Keine Ahnung.«
»Hast du sie schon einmal gesehen?«
»Nein.«
»Du hast einen ziemlich großen Verschleiß an Assistentinnen.«
»Das hat man mir bereits gesagt.«
»Und warum ist das deiner Meinung nach so?«, fragte ich.
»Es geht das Gerücht, dass man bei mir für wenig Entlohnung sehr viel arbeiten müsse.«
»Das kann ich mir gut vorstellen.«
»Hör mal, wenn ich jemanden in der indischen Wüste Thar verfolge, Durchfall habe und mein Kamel davonläuft, dann erwarte ich, dass ganz schnell ein neues Kamel auftaucht.«
»Das ist nachvollziehbar. Wie oft passiert denn so etwas?«
»Öfter, als mir lieb ist.«
KAPITEL 6
D iesel kurvte eine Weile herum, bis er einen Parkplatz gefunden hatte. Die Gehsteige und Gebäude waren aus Backstein, es gab etliche Grünflächen, und ich hatte das Gefühl, als befände ich mich in einem kleinen Dorf mitten in der Stadt. Es war sonnig, aber die Luft war kalt, und die Leute trugen Sweatshirts und Pullover und hatten sich lange Strickschals um den Hals geschlungen.
Wir betraten über die Quincy Street den Innenhof des Barker Center und fanden Reedys Doktorandin ohne Schwierigkeiten. Sie trug eine Jeans, einen dicken Pullover und drückte eine Ausgabe der Geschichte der englischen Lyrik des 16. Jahrhunderts an ihre Brust. Ihr krauses braunes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der wie ein
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