Kleine Sünden erhalten die Liebe
sich umdrehte und Diesel sah, schnappte sie nach Luft. »Tut mir leid«, sagte sie rasch. »Ich bin es gewohnt, hier nur kleine Menschen zu sehen.«
»Wir würden gern über Gilbert Reedy mit Ihnen sprechen«, erklärte Diesel.
»Sind Sie von der Polizei?«
Diesel nahm ein Buch über Lastwagen von ihrem Rollwagen und blätterte darin. »Das ist eine schwierige Frage.«
Sharon schob ihr Wägelchen vorwärts und stellte ein Buch in das Regal. »Ich habe Gilbert über eine Partnervermittlung kennengelernt. Er sagte, er sei auf der Suche nach der wahren Liebe.«
»Und?«
Sie zuckte die Schultern. »Wir gingen ein paarmal miteinander aus, und ich dachte, er würde mich mögen, aber dann tauchte diese Frau namens Ann auf, und er benahm sich sehr merkwürdig und gab mir schließlich den Laufpass.«
»Kennen Sie ihren Nachnamen?«
»Nein. Ich weiß gar nichts über sie.« Sie stellte ein weiteres Buch in das Regal. »Aber eines kann ich Ihnen sagen – Gilbert Reedy war ein seltsamer Kauz. Sein Fachgebiet war das elisabethanische England, doch er war völlig besessen von einem obskuren Dichter aus dem 19. Jahrhundert. Er besaß ein kleines Buch mit Sonetten, aus dem er auswendig zitieren konnte. Er war davon überzeugt, dass darin der Schlüssel zu wahrer Liebe zu finden war. So als hätte es mystische Kräfte. Und dann rief er mich eines Tages an und erklärte mir, dass er mich nicht mehr brauche. Er brauchte mich nicht mehr. Können Sie sich das vorstellen? Wie soll ich das verstehen? Und dann plapperte er ständig von Ann. Ann, Ann, Ann. Vom Sieg des Guten über das Böse. Und dass er es schon viel eher hätte sehen müssen.«
»Was hätte er schon eher sehen müssen?«, fragte ich.
»Das hat er nicht gesagt. Er redete unaufhörlich vor sich hin, und sein Geschwätz ergab keinen Sinn. Hätte es sich um jemand anderen gehandelt, hätte ich auf Drogen getippt, aber Gilbert Reedy hätte nicht einmal gewusst, wo er sich Drogen besorgen sollte. Er war ein typischer Gelehrter. Es kam mir beinahe so vor, als wären unsere Treffen ein wissenschaftliches Experiment gewesen.«
»Hatte er dieses Sonettenbuch bei sich?«, erkundigte sich Diesel. »Haben Sie es gesehen?«
»Ja. Es war ein sehr schönes Buch. Die Sonette waren von einem Dichter namens Lovey verfasst, und das Buch war in Leder gebunden und mit handgemalten Mandelblüten verziert. Es erinnerte mich an dieses Gemälde von van Gogh. Ich habe ein wenig nachgeforscht und herausgefunden, dass van Gogh und Lovey Zeitgenossen waren, also ist es möglich, dass Lovey das Gemälde als Vorlage für die Verzierung des Buchs verwendet hat. Vielleicht war es aber auch nur Zufall. Die Mandelblüte ist schon seit langer Zeit ein Symbol für Hoffnung. Das Buch war wie ein Tagebuch mit einem Schloss versehen, und es gab einen kleinen Schlüssel dazu. Gilbert hat mir den Schlüssel jedoch nie gezeigt. Er sagte, er sei das letzte Teil des Puzzles und er würde ihn an einem sicheren Platz aufbewahren.«
»Was meinte er damit, dass es sich um das letzte Teil des Puzzles handle?«, fragte ich sie.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Gordon. »Er machte ständig solche Bemerkungen und schweifte dann zu einem ganz anderen Thema ab. Im Nachhinein frage ich mich, warum ich immer wieder mit ihm ausgegangen bin. Eigentlich war er ein richtiger Spinner.«
»Er hat Ihnen Gedichte vorgelesen, und er war auf der Suche nach der wahren Liebe«, bemerkte ich.
Gordon nickte und lächelte. »Ja. Er war ein romantischer Spinner.«
»Haben Sie eine Ahnung, wer etwas über den Schlüssel und das Puzzle wissen könnte?«, fragte ich sie. »Hatte er nahe Verwandte oder Freunde, mit denen er darüber gesprochen haben könnte?«
»Ich glaube nicht, dass er Freunde hatte, und Verwandte hat er nie erwähnt. Er hat öfter von seiner Doktorandin Julie gesprochen. Er war ihr Doktorvater und hielt sie für sehr klug. Möglicherweise hat er sich ihr anvertraut. Und dann gab es natürlich diese Ann.«
Wir verließen die Bücherei und gingen zum Wagen zurück.
»Du hast gesagt, Reedy habe sich bei der Partnervermittlung vier Frauen ausgesucht«, sagte ich zu Diesel. »Ist Ann die vierte?«
»Nein, die vierte ist Deirdre Early. Sie wohnt in Boston.«
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. »Es ist fast vier Uhr. Willst du noch weitermachen?«
»Ja. Ich würde mich gern in Harvard ein wenig umschauen. Vielleicht finden wir Reedys Doktorandin. Und auf dem Heimweg könnten wir vielleicht Early einen
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