Kleine Sünden erhalten die Liebe
bauschiger Knoten in ihrem Nacken hing. Kein Make-up. Eine große runde Brille mit rotem Gestell. Eins fünfundfünfzig groß. Auf den ersten Blick sah sie aus wie zwölf, aber bei näherem Hinsehen entdeckte ich ein paar feine Fältchen um ihre Augen.
Diesel stellte sich als Daniel Crowley vor, und Julies Augen füllten sich mit Tränen.
»Herzliches Beileid«, sagte sie. »Dr. Reedy war ein wunderbarer Mensch.«
»Ich habe gehofft, dass ich mir sein Büro ansehen dürfte«, sagte Diesel. »Ich habe ihm vor einigen Jahren ein Buch gegeben, das großen ideellen Wert für mich besitzt. Ich hätte es gern zurück, und in seiner Wohnung konnte ich es nicht finden.«
»Natürlich. Ich kann Sie zu seinem Büro bringen. Die Polizei war bereits hier, aber sie haben nichts mitgenommen. Sie haben sich nur umgesehen und die Augen verdreht, dann sind sie wieder gegangen. Wir warten darauf, dass ein Familienangehöriger seine Sachen ausräumt, doch bisher sind Sie der Einzige, der gekommen ist.«
Wir folgten ihr eine Treppe nach oben und den Gang entlang und blieben an der Tür zu Reedys Büro stehen. Auf den ersten Blick wurde klar, warum die Polizisten die Augen verdreht hatten und wieder gegangen waren. Das Büro war vollgestopft mit typischem Professoren-Krimskrams. Die Bücher stapelten sich nicht nur in den Regalen, sondern waren im ganzen Raum aufgetürmt. In jeder Ecke stand irgendein Kunstgegenstand. Und auf dem Boden und dem Schreibtisch lagen verstreut zusammengerollte Karten.
»Wow«, staunte ich. »Ein ganz schönes Durcheinander. Seine Wohnung war so ordentlich aufgeräumt. Er scheint zwei verschiedene Persönlichkeiten gehabt zu haben.«
»Er hat in seiner Wohnung geschlafen, aber gelebt hat er hier«, erklärte Julie. »Und soviel ich weiß, hat er sogar einige Nächte hier verbracht, wenn er länger arbeiten musste. Unter all den Büchern und Papieren ist eine Couch versteckt. Sein Fachgebiet war zwar die elisabethanische Literatur, aber seine Leidenschaft galt einem vergessenen Dichter aus dem späten 19. Jahrhundert, John Lovey. Dr. Reedy ist vor zehn Jahren zufällig auf einige von Loveys Sonetten gestoßen und war zutiefst bewegt davon. Ich glaube, im Grunde seines Herzens war Dr. Reedy ein wahrer Romantiker.«
»Haben Sie die Sonette gelesen?«, erkundigte ich mich.
»Ja, aber ich muss gestehen, dass ich von ihnen nicht so begeistert war wie Dr. Reedy.« Sie ging zum Schreibtisch und wühlte in den Papieren. »Er schrieb eine wissenschaftliche Abhandlung über Loveys Werke und sein Leben. Ich weiß, dass hier irgendwo eine Kopie davon liegt. Die Arbeit ist sehr interessant. Anscheinend wurde Lovey zu seiner Zeit als visionärer Philosoph betrachtet. Eine Art Ayn Rand. Er hatte ein kleine, eingeschworene Fangemeinde. Sie waren alle auf der Suche nach wahrer Liebe.« Sie ging zu einem anderen Papierstapel und suchte dort weiter. »Loveys größter Bewunderer war ein Mann namens Abner Goodfellow. Er lebte in Hanover, New Hampshire, und Abners Haus ist immer noch im Besitz der Familie Goodfellow. Dr. Reedy besuchte Abners Urururenkelin, und sie erlaubte ihm, sich im Speicher umzuschauen, der bis oben hin mit alten Schätzen vollgestopft war. Zumindest hielt Dr. Reedy sie für Schätze, aber ich glaube eher, dass es sich um den üblichen Trödel handelte, der sich im Laufe der Zeit auf Speichern und in Garagen ansammelt.« Sie zog ein paar Seiten aus dem Stapel und schwenkte sie durch die Luft. »Ich habe es gefunden!«
Diesel nahm die Abhandlung entgegen. »Darf ich das behalten?«
»Natürlich.« Sie sah sich in dem Raum um. »Dr. Reedy war in den letzten Monaten so sehr in seine Arbeit vertieft, dass es hier noch unordentlicher aussieht als üblich. Vielleicht kann ich Ihnen helfen, Ihr Buch zu finden. Wonach genau suchen Sie?«
»Es handelt sich um eine signierte Ausgabe von Der Wind in den Weiden «, erwiderte Diesel. »Gilbert liebte den Kröterich.«
»Ich kann mich nicht erinnern, es hier gesehen zu haben«, meinte Julie. »Ich suche auf dieser Seite des Zimmers, und Sie sehen im Bücherregal nach.«
Ich ging zum Schreibtisch hinüber und durchsuchte systematisch alle Schubladen. Die oberste Schublade auf der rechten Seite war verschlossen, und ich konnte nirgendwo einen Schlüssel entdecken, also holte ich Diesel, damit er seine magische Entriegelungstechnik anwendete. Er öffnete die Schublade, und wir starrten auf ein in Leder gebundenes Buch, das, wie ich annahm, Ähnlichkeit mit dem
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