Kleine Sünden erhalten die Liebe
Minuten parkten wir vor Gilbert Reedys Wohnhaus. Eine Sperrholzplatte verdeckte die zerbrochene Balkontür. Das war das einzige Anzeichen dafür, dass sich hier eine Tragödie ereignet hatte. Die Leiche war vom Gehsteig entfernt worden. Die Polizeiautos waren verschwunden. Auch das Absperrband war nicht mehr am Tatort.
Diesel stieg aus und öffnete mir die Tür. »Wir werden uns ein wenig umschauen.«
»Du schaust dich um. Ich warte hier.«
»So funktioniert das nicht«, entgegnete Diesel. »Wir sind Partner.«
»Ich will aber nicht dein Partner sein.«
»Und ich will nicht mit einem Affen leben.«
Das war ein gutes Argument, also öffnete ich meinen Gurt und folgte ihm in die kleine Eingangshalle des Hauses. Als Diesel zum Aufzug ging, wich ich einen Schritt zurück.
»Warte mal«, sagte ich. »Wo willst du hin?«
»Reedy wohnte in 4B.«
»Du willst in seine Wohnung einbrechen?«
»Ja.«
»Das ist verboten. Und es ist widerlich.«
Diesel zog mich in den Fahrstuhl und drückte auf den Knopf mit der Zahl drei. »Ich hab damit kein Problem.«
»Aber ich.«
»Du bist der Juniorpartner, also hast du nur fünfzehn Prozent Stimmrecht.«
»Warum bin ich der Juniorpartner? Ich bin genauso stark wie du.«
Die Aufzugtür öffnete sich, und Diesel schob mich in den Flur. »Das glaubst auch nur du.«
»Du spürst Menschen auf, die besondere Fähigkeiten haben, und ich kann Gegenstände finden, die etwas Magisches an sich haben. Ich sehe da keinen Unterschied.«
»Schätzchen, ich besitze eine lange Liste von besonderen Talenten. Und seien wir ehrlich – du kannst Cupcakes backen.«
Mir blieb der Mund offen stehen.
Diesel grinste mich an. »Klingt es besser, wenn ich sage, dass deine Cupcakes wirklich großartig sind?«
»Du kriegst von mir keinen einzigen mehr.«
Diesel legte einen Arm um meine Schultern und zog mich an sich. »Das ist nicht dein Ernst.« Er entfernte das Klebeband, mit dem die Tür zu 4B versiegelt war, legte seine Hand über das Bolzenschloss und führte eins der Talente auf seiner Liste vor. Das Schloss drehte sich. Diesel bekam einfach alles auf. Er drehte den Türknauf, und wir betraten Reedys Apartment.
Die Wohnung war klein, aber gemütlich eingerichtet. Eine dick gepolsterte Couch mit zwei Sesseln. Ein großer Sofatisch, beladen mit Büchern, einigen Stiften und einem mit einem großen Gummiband zusammengehaltenen Stapel Papier. Ein Flachbildfernseher gegenüber der Couch. Ein Schreibtisch neben der eingeschlagenen Balkontür. Wir warfen einen Blick in die Küche. Die Küchengeräte waren alt, aber sauber. Ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Ein Kaffeebecher in der Spüle. Es gab ein Schlafzimmer und ein Badezimmer. Auch dort war nichts Außergewöhnliches zu sehen.
»Was tun wir hier?«, wollte ich von Diesel wissen.
»Wir suchen nach etwas.«
»Damit kommen wir der Sache schon näher.«
Wir gingen zu dem Bücherregal neben Reedys Schreibtisch. Er besaß eine umfangreiche Sammlung von Klassikern, einige Biografien, ein paar historische Romane und eine große Gedichtsammlung, die ein ganzes Fach beanspruchte. Das Buch mit den Sonetten war nicht darunter. Ich ging in Reedys Schlafzimmer und sah mich dort um. Auch keine Spur davon. Das Gleiche galt für Bad und Küche.
»Es scheint alles an seinem Platz zu sein«, sagte ich zu Diesel. »Aber Loveys Sonette kann ich nicht entdecken.«
»Möglicherweise hat die Spurensicherung das Buch mitgenommen«, meinte Diesel, »was allerdings nicht sehr wahrscheinlich ist. Wieso auch? Ich glaube eher, dass der Mörder das Buch an sich genommen hat.«
Ich ging zu dem Couchtisch hinüber und starrte auf die Shakespeare-Anthologie, die mindestens vierzehn Pfund wog. Der Einband war verblichen. Die Seiten hatten Eselsohren und waren vom Alter vergilbt. Ein linierter Notizblock diente als Lesezeichen. Ich schlug das Buch an dieser Stelle auf und überflog die Seite.
»Reedy hat sich mit Shakespeares Sonetten beschäftigt«, berichtete ich Diesel. »Und er hat sich Notizen dazu gemacht. Er hat die Zeile Oft blickt zu heiß des Himmels Auge nieder abgeschrieben und Schlüssel zum Luxuria-Stein dazugeschrieben und zweimal unterstrichen. Und weiter unten auf der Seite hat er eine Liste von Fachzeitschriften und Fachbüchern erstellt. Loveys Buch steht auf der Liste an letzter Stelle.«
Diesel warf einen Blick über meine Schulter und las Reedys Notizen. » Luxuria ist lateinisch für Wollust.«
»Du kannst Latein?«
»Superbia, Acedia,
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