Kleine Suenden zum Dessert
ein Fuß geheilt ist, oder?«
»Im Moment ist sie noch im OP, Ewan.« Grace ließ die Physiotherapie und das »Undsoweiter« unerwähnt. Ihr Mann war kein Mensch, der große Realitätsbissen schlucken konnte. Sie musste sie ihm in mundgerechten Häppchen servieren. Plötzlich fiel ihr ein, wie sie die Zwillinge früher in ihren Hochstühlchen mit Gemüse gefüttert hatte, das vorher sorgfältig zerdrückt worden war.
»Sie hat doch Angehörige«, setzte Ewan hinzu. »Warum können die sich denn nicht um sie kümmern?«
Sein genervter Ton und sein Mangel an Mitgefühl für Mrs Carr machten Grace so wütend, dass sie laut sagte: »Vielleicht können sie es ja! Ich weiß es noch nicht! Ich weiß im Moment nur, dass ich vor drei Stunden eine alte Frau angeschossen habe, Ewan! Eine alte Frau, bei der zwei Mittelfußknochen zertrümmert wurden und die jetzt durch meine Schuld auf dem Operationstisch liegt.«
Ewan seufzte. »Sei nicht so melodramatisch, Grace ...«
»Es tut mir Leid, wenn das unsere Pläne durcheinander bringt. Es tut mir Leid, dass das ausgerechnet jetzt passiert ist, aber wenn ich in einem solchen Fall kein Mitgefühl aufbringen könnte, dann würde ich nicht viel taugen, oder?« Ewan und die inzwischen zurückgekehrten Jungen tauschten einen Blick, als hielten sie sie für durchgeknallt. Sie wollte sie tatsächlich wegen zwei alberner Knöchelchen hier stehen lassen! (Aber sie durfte nicht gehen. Sie hatte die Bordkarten, die Getränke für den Flug, zwei Computerspiele für die Jungen und Ewans Buch.)
Dies ist der letzte Aufruf für Flug EL 102 nach London. Das Gate wird in fünf Minuten geschlossen.
»Jesus!«, erregte sich Ewan. »Wir werden zu allem Überfluss auch noch die Maschine verpassen!« Das erschien Grace als eine weitere Bezichtigung, allen den Tag verdorben zu haben, und sie beschleunigte grimmig ihr Tempo, wobei sie die Bordkarten hoch in die Luft hielt, was sie wie eine hektische Flugbegleiterin wirken ließ. Ewan und die Jungen mussten rennen, um mit ihr Schritt zu halten.
»Grace! Warte doch!« Offenbar war ihm aufgefallen, dass er sie verärgert hatte (das merkte er fast immer, wenn er auch für gewöhnlich keine Ahnung hatte, womit), denn er keuchte: »Man weiß ja nie. Vielleicht wird sie schnell entlassen und du kannst schon in ein paar Tagen nachkommen.« Es war der erste Bezug auf das, was sie in diesem Fall zu erleiden hatte: ihre Enttäuschung. Bei den Jungen mochte ihre Aufregung als Entschuldigung gelten - aber bei Ewan?
»Vielleicht«, sagte sie.
Sie hatten das Gate erreicht, und Grace griff in ihre Tasche, um all die Kleinigkeiten herauszuholen, an die zu denken sie ihren Lieben erspart hatte. Sie gab sie Ewan. »Seid brav«, ermahnte sie Neil und Jamie automatisch. »Wir telefonieren, okay?«
»Ich habe Durst«, lautete Jamies Reaktion. Sie reichte ihm eine Flasche Wasser. Als sie in sein vor Aufregung gerötetes Gesicht schaute - in die beiden vor Aufregung geröteten Gesichter ihrer Kinder -, wurde sie plötzlich von Verlustangst überwältigt: Sie würden ohne sie wegfliegen, eine große Reise machen, und sie müsste dableiben!
Grace ging in die Hocke und schloss ihre Söhne in die Arme. »Bis bald, meine Süßen! Ich werde euch vermissen!« Sie drehten und wandten sich und schauten sich um, ob jemand diese peinliche Szene beobachtete. »Du siehst uns doch wahrscheinlich schon in ein paar Tagen wieder«, sagte Neil in vorwurfsvollem Ton.
Er hatte Recht. Der Augenblick war vorüber. Sie ließ die Jungen so unvermittelt los, als habe sie sich verbrannt, und stand auf.
Dann wandte sie sich Ewan zu. Stirnrunzelnd und nervös blinzelnd suchte er nach Taschen für den vielen Kleinkram.
»Ich wünsch euch einen guten Flug«, sagte sie.
»Es ist die zweite Etappe, die mir Kopfzerbrechen macht«, grollte er. »Die nach Amerika. Sind die Spiele für die Jungs da?«
»Du hast sie gerade in deine Manteltasche gesteckt, Ewan.«
»Oh ja, stimmt.«
»Also, dann macht‘s gut.« Sie erwartete eine Umarmung.
Dies ist eine Durchsage für Flug EL 102 nach London. Das Gate wird jetzt geschlossen ...
»O Gott!« Ewan nahm die Zwillinge an die Hand, und Grace sah zu, wie sie unter der Kordel hindurchschlüpften. Der Angestellte am Gate überprüfte gründlich, aber schnell ihre Bordkarten und winkte sie dann durch. Gott sei Dank. Grace trat einen großen Schritt nach links, um durch die Glasscheibe schauen zu können und ihnen zu winken, doch Ewan und die Jungen waren am
Weitere Kostenlose Bücher