Kleine Suenden zum Dessert
entspannte sich ein wenig. »Es gab nicht viele aufzuzählen, ehrlich gesagt«, vertraute er ihr an. »Die meisten sind entweder tot oder fast tot, und, unter uns, sie hat auch nicht viele Freunde.«
»Und wen haben Sie angegeben?«
»Michael - das ist ihr Sohn - und ihre Schwiegertochter Gillian.«
Jetzt schaute auch er auf die Uhr. »Ich denke, ich sollte Sandy mal informieren, was passiert ist. Es wird sie sehr enttäuschen, wenn sich der Verkauf dadurch verzögert. Sie sagte zu mir: ›Sieh zu, dass du deinen Hintern hierher bewegst, bevor ich einen anderen Mann finde!«‹ Hastig setzte er hinzu: »Natürlich machte sie nur Spaß. Ich meine... sie ist kein lockerer Vogel oder so was.«
»Ich habe keine Sekunde angenommen ...«
»Sie geht jeden Sonntag zur Kirche, singt sogar im Chor. Wenn sie keinen Vortrag hält.«
Sandy schien mit Entschlossenheit auf ihre Heiligsprechung hinzuarbeiten. Grace schrieb diesen Gedanken ihrem Neid zu.
»Ich nehme an, dieser Vorfall wird den Verkauf verzögert!«, sagte Frank düster.
»Nun ja, wir mussten die drei Paare wegschicken ...«
»Aber Sie werden doch neue Termine mit ihnen vereinbaren, oder?«
»Selbstverständlich«, log Grace. Der Anblick von Mrs Carr, die auf einer Bahre aus ihrem gegenüberliegenden Haus getragen wurde, und die bis an die Zähne bewaffneten Mitglieder des Sonderkommandos der Polizei, die ihr zum Notarztwagen folgten, hatten das Interesse an Franks Haus höchstwahrscheinlich im Keim erstickt. »Mrs Carr? Mrs Julia Carr?« Ein Angehöriger des medizinischen Personals in grünem Outfit stand mit einem Krankenblatt in der Hand neben der Schwingtür und schaute erwartungsvoll in die Runde.
Grace sprang auf. »Das geht uns an. Frank - Sie halten meinen Platz frei.«
Sie stakste im Storchengang über ausgestreckte Beine und schlafende Kinder. Der Mann wirkte ungeduldig und gestresst. Sie hatte ihn noch nicht in der Notaufnahme gesehen und hoffte, dass er nicht wusste, dass sie mit der Schießerei zu tun hatte.
Doch er sagte ohne Einleitung: »Tragen Sie die Verantwortung für Mrs Carr?«
Lief denn heute nichts nach ihren Wünschen? »Das steht noch nicht fest«, antwortete sie entschieden, wobei sie dem Drang widerstand, schuldbewusst den Blick zu senken. Schließlich hieß es doch »unschuldig, bis die Schuld bewiesen ist«, oder?
Der Mann sah sie gereizt an. »Aber Sie haben sie hierher begleitet, nicht wahr?«
»Ja, das schon.«
»Sie wird gerade für die Operation vorbereitet.«
»Was?« Grace erschrak. Das lag an dem Wort Operation. Es barg einen anderen Begriff in sich: Tod. »Zwei der Mittelfußknochen müssen wiederhergestellt werden. So weit es möglich ist.« Er bedachte sie mit einem anklagenden Blick. Grace wäre am liebsten im Boden versunken.
»Dann ist es also ziemlich ernst?«, fragte sie mit schwacher Stimme. Wie war Frank bloß auf die Idee mit der kleinen Zehe gekommen?
»Bei einem Menschen ihres Alters ist jede Verletzung ernst«, erklärte er ihr mit dem Unterton, dass sie sich, wenn sie schon unbedingt auf jemanden schießen wollte, wenigstens ein jüngeres Opfer hätte suchen sollen. »Ich danke Ihnen für die Auskunft«, sagt sie. »Vielleicht sollte ich mit dem Chirurgen sprechen.«
»Das tun Sie bereits.«
»Oh!« Jetzt hatte sie den Chirurgen auch noch beleidigt! So was wäre der Frau in dem Disneyworld-Prospekt niemals passiert! Die Frau in dem Disneyworld-Prospekt wäre überhaupt nicht hier gelandet! Allein der Gedanke, in eine so missliche Lage zu geraten, hätte ein Lächeln auf ihrem perfekten Gesicht erscheinen lassen, das freundlich, aber entschieden ein »Unvorstellbar« ausdrückte. »Wie lange wird sie im Krankenhaus bleiben müssen?«, erkundigte sich Grace.
»Sie macht einen recht robusten Eindruck, und ich denke, dass wir sie in ein paar Tagen entlassen können.« Ein paar Tage wären nicht so schlimm, dachte Grace. Sie würde eben in Florida zu Ewan und den Jungs stoßen.
Damit entginge ihr zwar der Motelaufenthalt, aber das war ein geringer Preis für ihre Tat. Sie schuldete es Mrs Carr, hier zu bleiben. »Okay«, sagte sie.
»Sie wird sich natürlich ein paar Wochen im Rollstuhl oder mit Krücken fortbewegen, und Sie werden sie zur Physiotherapie und so weiter herbringen müssen.« Ungerührt von ihrem Entsetzen, das man ihr bestimmt ansah, konsultierte er wieder das Krankenblatt in seiner Hand. »Was ihre Betreuung zu Hause angeht, werden Sie gemeinsam mit Ihrem Mann sicherlich eine
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