Kleiner Hund und große Liebe
extra Zitronenpudding. Aber, nun sagt mal, was ihr eigentlich vorhabt - wenn ich fragen darf?“
Wir erzählten die ganze Geschichte. Daß wir ab jetzt Dorfbewohner geworden waren, daß Papa mindestens ein Jahr Aufträge in Norddeutschland hatte, und daß ich in Braunschweig zur Schule kommen sollte.
„Mensch!“ rief Jessica. „Nix wie los, Bernadette, ich weiß, was ein Umzug ist! Und all das Einpacken und Wegpacken und Ausmisten - klar müßt ihr beide nach Frankfurt! Es ist ja prima, daß ihr hierbleibt, dann können wir euch öfters übers Wochenende besuchen!“
Jessica war begeistert von meinem Haus. Sie wollte alles sehen, vom Keller bis zum Boden. Daß sie sofort nach ihrer Ankunft Anton begrüßt und Bisken kennengelernt hatte, ist überflüssig zu sagen. Dann ging es in den Garten.
„Ihr seid aber fleißig gewesen!“ sagte Jessica. „Hier ist ja alles vorbereitet fürs Frühjahr - dabei schriebst du mir doch, Bernadette, daß das ganze Grundstück umgegraben werden mußte!“
Also mußten wir auch Jessica die ganze Geschichte mit Cora erzählen, von Biskens Geburt und über den denkwürdigen Tag, an dem Ingo und Cora sich wiedergefunden hatten. Sie horchte mit großen Augen.
„Lieber Himmel!“ sagte sie zuletzt. „Was für ein Glück! Glück für das kleine, ausgesetzte Hündchen, Glück für den Besitzer und Glück für euch!“
„Das kann man wohl sagen“, nickte Mama. „Der Ingo ist ein so netter junger Mann, ich hoffe sehr, daß er uns wieder mal besucht!“ Ich drehte mich um und ging ein Stück weiter. Die anderen brauchten ja nicht unbedingt zu fragen, warum ich plötzlich errötete!
Wir verlebten einen urgemütlichen Abend mit Jessica. Marcus ließ sich nur mühsam dazu überreden, ins Bett zu gehen und willigte endlich nur ein, weil er Bisken mitnehmen durfte und weil Jessica ihm für den nächsten Tag eine doppelte Portion Zitronenpudding versprach.
Dann saßen wir vier im Wohnzimmer, aßen Himbeereis und plauderten.
„Jessica“, sagte Mama, „du hast am Telefon angedeutet, daß du auch mit uns etwas vorhast. Wolltest du uns um etwas bitten, dann sag es. Der Augenblick ist richtig, denn gerade jetzt sind wir dir so dankbar, daß wir dir keine Bitte abschlagen können.“
„Versprich nicht zuviel“, sagte Jessica. „Wartet, bis ihr meine Geschichte gehört habt. Dazu braucht ihr etwas Geduld, denn ich muß ziemlich weit ausholen.“
„Geduld haben wir“, versicherte Papa.
„Schieß los, Jessica!“ bat Mama.
Ein Mädchen namens Miriam
„Es war an meinem ersten Tag bei der Praxis-Vertretung“, begann Jessica. „Es war nicht allzuviel zu tun, ich konnte mir für jeden Patienten Zeit nehmen. Als letzte Patientin des Tages kam ein junges Mädchen, achtzehn Jahre alt. Mein erster Eindruck, den ich von ihr hatte, war ihre außergewöhnliche Schönheit. Sie war bildhübsch. Ein feines Gesicht, dunkle Haare, ein Paar große, braune Augen. Ja, nun muß ich euch sagen, daß das Mädchen mich von meiner Schweigepflicht entbunden hat. Was ich euch erzähle, darf ich also erzählen.
Sie bat mich um ein Schlafmittel, sie konnte keine Nacht richtig schlafen und litt immer an Kopfschmerzen. Ich mußte ja vor allem ergründen, was die Ursache dieser Schlaflosigkeit war. Ich mochte das Mädchen auf Anhieb - wißt ihr, es kommt vor, daß man einen Menschen bei der ersten Begegnung wahnsinnig gern mag, man hat das Gefühl: Diesen Menschen möchte ich näher kennenlernen. Ich weiß nicht, ob ihr das schon einmal erlebt habt?“
„Und ob!“ riefen Mama und Papa wie aus einem Munde.
Jessica lächelte.
„Ja, ihr habt euch wohl gleich ineinander verliebt, das ist etwas anderes. Ich spreche jetzt von etwas, das gar nichts mit Verliebtheit oder Sex zu tun hat. Sagen wir also, menschliche Sympathie in höchstem Maße.
Später hat Miriam mir gesagt, daß sie das gleiche für mich empfunden hat. Ja, sie heißt Miriam.
Ich sagte doch, daß sie die letzte Patientin des Tages war. Ich bat sie, mir zu sagen, warum sie so schlecht schlief, warum sie so nervös war. Dann erzählte sie. Sie erzählte, so daß ich Uhrzeit und Mittagessen vergaß, ich lauschte und lauschte - nun ja, dies geht nicht um meine Reaktion, sondern um Miriams Schicksal.
Miriam ist Jüdin. Außer ihrer Mutter hat sie keine Verwandten mehr. Ihr Vater starb vor drei Jahren, alle vier Großeltern und deren Geschwister sind in Konzentrationslagern ums Leben gekommen. Miriams Mutter ist Tschechin, sie kam als
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