Kleiner Hund und große Liebe
hat sie sich gefreut, als ich kam! Später erzählte sie mir, daß sie Himmel und Erde in Bewegung gesetzt hätte, um mich aus der Sekte rauszukriegen. Aber alles war vergebens. Ich war volljährig und konnte machen, was ich wollte. Sie bat mich so innig, doch gleich zu Hause zu bleiben und nicht das großzügige Angebot meines neuen Freundes anzunehmen. Sie würde nie die Tür aufmachen, ohne die Sicherheitskette vorzulegen, wenn jemand nach mir fragte, würde sie lügen und sagen, ich sei nicht da. Und sie würde versuchen, ob sie ihren Urlaub vorverlegen könnte, so daß sie drei Wochen zu Hause bei mir bleiben könnte.
Nun ja, das hat dann geklappt, und ich kann dir sagen, Mutti war einmalig zu mir. Ich war bestimmt furchtbar, und Mutti hatte eine Engelsgeduld mit mir.“
„Wieso warst du furchtbar?“ fragte ich.
„Na, ich war irrsinnig nervös. Ich hatte Herzklopfen, wenn es an der Tür klingelte, und ich wagte es nie, auf die Straße zu gehen. Und schlafen konnte ich auch nicht. Ja, und dann sprang wieder mein Retter ein. Er holte mich öfters zu einer Autofahrt ab, manchmal kam Mutti auch mit. Und er war es, der mich dazu überredete, zu einer Ärztin zu gehen.“
„Und was für eine Ärztin!“ sagte ich. „Jessica ist ein Prachtmädchen!“
Miriam lächelte.
„Ja, das kann ich unterschreiben! Nun ja, den Rest kennst du. Nachdem ich herkam, habe ich wie ein gesundes Baby geschlafen und tüchtig gegessen. Und ich bin so froh, daß Mutti nach Nürnberg versetzt wird! In eine Stadt, in der mich niemand kennt, wo ich sozusagen neu anfangen kann!“
„Und dein Freund, der gesegnete Mensch?“
„Ja, er fuhr in Urlaub am Tag nach meinem ersten Besuch bei Frau Doktor Eichner. Er war drei Wochen weg, und nachdem er zurückkam, habe ich ihn nur ein einziges Mal kurz getroffen. Und dann hatte er nur noch eins im Kopf. Er war vollkommen aus dem Häuschen vor Glück, weil er nämlich seinen Hund zurückbekommen hatte! Das Tier war ihm im Frühjahr gestohlen worden, und wie durch ein Wunder hatte er es wiedergefunden!“
Ich weiß nicht, was ich antwortete, weiß nicht, ob ich überhaupt etwas sagte. Ich fühlte nur, daß ich blaß wurde, meine Wangen waren eiskalt, und mein Herz klopfte wie ein Hammer. Ich stand auf, mußte einen Vorwand finden, um zu verschwinden. Ich mußte allein sein. Gott sei Dank, in dem Augenblick klang Mamas Stimme aus der Küche: „Elaine! Elaine! Komm mal schnell!“
Und ob ich schnell kam!
Es zeigte sich, daß sowohl Miriam als auch ich vergessen hatte, Zucker zu kaufen, und Mama stand hilflos da, mit den anderen Zutaten für unseren Nachtisch vor sich auf dem Küchentisch.
„Ihr seid mir zwei Trottel“, sagte Mama. „Spring aufs Rad und hol zwei Pfund Zucker, ein bißchen dalli, bitte!“
Es drehte sich alles in meinem Kopf, drehte sich um die Wette mit dem Fahrrad.
Es war Ingo, der Miriam gerettet hatte. Es mußte Ingo sein. Es gab doch bestimmt keinen zweiten jungen Mann in Lübeck, der im Frühjahr seinen Hund verloren und ihn „wie durch ein Wunder“ wiedergefunden hatte. Und der Freund war drei Wochen weg gewesen - stimmte genau! Und dann seine ganze Art, so wie er Miriam geholfen hatte - ja, das war typisch für ihn!
Miriam - die bildschöne Miriam. Jetzt begriff ich, warum meine kleine Wenigkeit keinen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Ich mit meinen Wuschelhaaren und meinem ganz und gar „unklassischen“ Profil.
Wenn er in Lübeck eine so schöne Freundin hatte! Und so lieb und nett dazu! Zwei Jahre älter war sie als ich - auch in dem Punkt paßte sie besser zu ihm.
Sollte ich Miriam erzählen, daß ich ihren Freund kannte? Daß er es war, der unseren Garten angelegt hatte? Daß wir es waren, die Cora gefunden und adoptiert hatten?
Ja. Ich mußte es ihr erzählen! Denn früher oder später würde irgendeiner von der Familie seinen Namen erwähnen und die Geschichte von der wiedergefundenen Cora erzählen. Ja, ich mußte es ihr sagen, und in einer Weise, daß sie nicht verstand, daß ich mich in ihren Freund restlos, hilflos verliebt hatte.
Ja, denn das hatte ich. Wenn ich überhaupt noch daran gezweifelt hatte, dann wußte ich es jetzt. Sonst hätte es mir nicht so weh getan, zu erfahren, daß er eine andere Freundin hatte. Eine liebe, nette, bildschöne Freundin, die es außerdem so schwer im Leben gehabt hatte, daß er sie nie, nie im Stich lassen konnte.
Ich hatte einen Kloß im Hals, und er wuchs und wuchs. Als ich auf dem Rückweg vom Kaufmann zu
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