Kleiner Hund und große Liebe
und während sie es sorgfältig hin und her bewegte, sprach sie weiter.
„Ich kann es dir gern erzählen. Du weißt ja sonst alles mögliche über mich, ich habe ja Frau Doktor Eichner von ihrer Schweigepflicht entbunden. Aber das mit dem Freund weiß sie auch nicht.“
„Ich verstehe aber nicht.“, sagte ich.
„Ich lernte ihn auf der Straße kennen. Ja, genau, auf der Straße. In der Sekte war es ja so, daß wir andauernd neue Mitglieder beschaffen mußten. Ich hatte es bis dahin nicht geschafft, und der Leiter war mir ziemlich böse, und - na ja, was er sagte, daran denke ich lieber nicht. Jedenfalls meinte ich, es war meine Pflicht, neue Mitglieder zu werben. Ich ging auf die Straße und sah alle Menschen an, die ich traf. Vor einem Schaufenster stand ein junger Mann und sah so furchtbar ernst, beinahe unglücklich aus. Ja, wirklich unglücklich. Da machte ich also meinen ersten Werbeversuch. Ich gebrauchte dieselben Worte, die mich damals dazu gebracht hatten, zu der Versammlung zu gehen. Ich sagte, ich wüßte, wie er froh und glücklich werden könnte.“
„Wurde er nicht böse? Ich wäre hochgegangen, wenn jemand mich so - ja, so persönlich angesprochen hätte!“
„Nein, er war nicht böse. Er war wohl - ja, erstaunt! Er sah mich an, und ich fühlte, wie ich errötete. Das alles war mir ja so peinlich! Dann lächelte er gutmütig und sagte - ja, ich weiß es noch wörtlich, ich höre noch seine Stimme - er sagte: ,Sag mal, Mädchen, du wirbst wohl für so eine Sekte, stimmt das?
’Ja, das mußte ich zugeben, und dann nahm er meinen Arm und sagte: ,Komm, ich möchte mit dir reden’, und wir setzten uns auf eine Bank im Park, und er bat mich, zu erzählen. Er wollte alles über die Sekte wissen, und er fragte, wie es gekommen war, daß ich mich diesem Verein oder wie ich es nun nennen soll, angeschlossen hatte.“ „Und du hast erzählt?“
„Ja. Zuerst dachte ich, hier würde ich endlich ein neues Mitglied werben können, aber ehe ich es selbst wußte, hatte ich über meine eigenen Sorgen erzählt, und all meine Schwierigkeiten, über meine Quälgeister, die Judenhasser waren.“
„Und er, dein Freund? Was hat er dazu gesagt? Ich meine, daß du Jüdin bist?“
„Gar nichts! Er nahm es als eine ganz natürliche und ganz belanglose Sache auf! Aber als ich ihm erzählte, wie bodenlos einsam ich war - wie meine Großeltern und alle anderen aus der Generation ums Leben gekommen waren -, da nahm er meine Hand und sagte: ,Armes, kleines Mädchen.’
Und dann fing er an, vernünftig zu reden. Er bat mich, ehrlich zu sagen, was diese Sekte mir eigentlich gegeben hatte. Er fragte, ob ich nun wirklich glücklich geworden sei. Dann mußte ich zugeben, daß das gar nicht der Fall war. Anfangs klang alles so schön, wir sollten Menschenliebe praktizieren und dadurch selbst glücklich werden. Aber der einzige, der glücklich wurde, war der Leiter der ganzen Bewegung! Ach, Elaine, ich kann dir nicht alles erzählen, ich glaube, du würdest es doch nicht verstehen! Wie eine Menge junger Menschen sich als Sklaven behandeln ließen - wie wir alles taten, was von uns verlangt wurde. Es wurde uns gesagt, wir sollten genügsam leben, es gäbe höhere Werte auf dieser Welt als gutes Essen und luxuriöse Wohnungen - wir waren alle unterernährt vor lauter Idealismus! Was sage ich - Idealismus? Nun ja, das, was uns als Idealismus vorgegaukelt wurde!
Ja, ich saß also auf der Bank und erzählte und erzählte und beantwortete Fragen. Zuletzt stand mein neuer Freund auf, nahm mich an der Hand und sagte: ,So, und nun kommst du mit. Jetzt bringe ich dich nach Hause.’
Ich habe mich dagegen gesträubt, ich hatte Angst - oh, du kannst dir nicht vorstellen, welche Angst ich hatte! Man würde mich vielleicht zurückholen, man würde mich grausam bestrafen. Ich mußte zurück zu meinen Leidensgenossen, zu der Sekte, zu dem despotischen Anführer!
,Das mußt du nicht’, sagte er. ,Vor allem werden wir jetzt deine Mutter benachrichtigen, und wenn du dich davor fürchtest, zu Hause zu bleiben, kommst du vorerst zu mir. Nein, nein, du kannst ganz ruhig sein, ich wohne mit meiner Mutter zusammen. Sie wird schon auf dich aufpassen.’
Ja, und dann war ich plötzlich diesem Menschen gegenüber genauso folgsam, wie ich es bis jetzt in der Sekte gewesen war. Wir gingen zum Parkplatz, wo er seinen Wagen stehen hatte, und wir fuhren zu meiner Mutter. Mein armes Muttchen, was hatte ich ihr bloß für Kummer verschafft! Und wie
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