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Kleiner König Kalle Wirsch

Kleiner König Kalle Wirsch

Titel: Kleiner König Kalle Wirsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilde Michels
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lauschte in die reglose
Finsternis, dann legte er beide Hände um den Mund und rief: »Fährmann, hol
über!«
    »L-über-über-über«, kam das Echo von
den Wänden zurück. Sonst nichts.
    »Hol über!« rief Kalle ein zweites
Mal.
    Da planschten Ruderschläge dicht vor
ihnen im Wasser, und aus all der Schwärze löste sich ein bleicher Körper, der
sich auf sie zubewegte, unförmig, quallig, aufgedunsen.
    »He, wer ruft?« Der Fährmann streckte
den dicken Kopf mit den blinden Augen lauernd vor. Er stand aufrecht im Boot,
das er mit einem Stehruder am Heck vorwärtsbrachte. Um seinen Bauch
schlotterten Fetzen eines dunklen Gewandes. Das einzige, woran man seine
Herkunft von den Meermenschen erkennen konnte, waren froschartige Hände und ein
paar grüne Haare, die ihm in dünnen Strähnen vom Kopf hingen.

    Jenny faßte schnell nach der Hand
ihres Bruders, Kalle aber trat dicht ans Wasser und antwortete:
    »Ich bin’s, Kalle Wirsch, König der
Erdmännchen. Hol über, Fährmann!«
    Eine Weile erfolgte gar nichts. Man
hörte nur Ruderschläge und den pfeifenden Atem des Fährmanns.
    »Pfüüüh, Kalle Wirsch«, pfiff er
schließlich. »Wer’s glaubt, wer’s glaubt. — Die Erdmännchen sind längst über
meinen See gezogen. Drei Boote voller Wirsche habe ich hinübergerudert.«
    »Wann?« fragte Kalle schnell.
    »Vor ein paar Stunden, mag sein, oder
ein paar Tagen, mag sein, oder ein paar Wochen — was weiß ich.«
    »Aber Kalle Wirsch war nicht dabei«,
sagte Kalle. »Haben sie das nicht gewußt?«
    »Gewußt, gewußt!« pfiff der Fährmann.
»Im ersten Boot wußten sie, daß der König am Schluß war, im zweiten Boot wußten
sie, daß er vorn war, im letzten Boot wußten sie, daß er in der Mitte war.
Gewußt, gewußt, pfüüüh.«
    Plötzlich straffte er seinen Rücken
und fragte gespannt: »Bist du wirklich Kalle Wirsch?«
    »Ja, leider«, antwortete Kalle. »Mir
wär’s auch lieber, ich befände mich dort, wo ich hingehöre.«
    »Ich soll dich also hinüberrudern?«
    »Deshalb habe ich dich gerufen.«
    »Und du bist allein?« Die blinden
Augen schossen in seinem Kopf hin und her, und die Nase schnupperte mißtrauisch
zum Ufer hin.
    Kalle tauschte einen raschen Blick mit
Max und Jenny, legte seinen Finger auf die Lippen und sagte: »Wer sollte bei
mir sein? Mein Volk hast du ja schon vorausgerudert.«
    »Allein also, allein, ganz allein, das
ist gut, so kann’s gehen«, murmelte der Fährmann.
    »Was meinst du damit?« fragte Kalle.
    »Ich meine, ich meine, daß die Fuhre
diesmal nicht so mühsam wird.«
    Schwerfällig schob sich der schwarze
Kahn auf den Ufergrund.
    Kalle sprang hinein. Max und Jenny
stiegen zögernd nach. Sie versuchten, ganz geräuschlos aufzutreten, und sie
machten es auch, so gut sie konnten, aber um ehrlich zu sein: am liebsten
hätten sie keinen Fuß in dieses unheimliche Boot gesetzt. Ihr Mut war
angesichts des gräßlichen Fährmanns geschwunden, und obwohl sie wußten, daß er
nicht sehen konnte, fühlten sie sich von seinen unstet irrenden Augen verfolgt
und glaubten sich jeden Augenblick entdeckt.
    »Bist du drin?« fragte der Fährmann.
    »Ja«, antwortete Kalle.
    »Mir ist, als seien mehr als zwei Füße
eingestiegen.«
    »Das schien dir so, weil ich mich auf
meine beiden Hände gestützt habe.«
    »Gestützt? So, mag sein, gestützt,
pfüüüh.« Er schnüffelte wieder argwöhnisch herum, schien sich dann zu beruhigen
und packte das Ruder.
    »In der Mitte«, murmelte er, während
er abstieß, »am besten in der Mitte, wo’s am tiefsten ist.«
    »Was redest du da?« fragte Kalle und
wechselte einen besorgten Blick mit Max und Jenny.
    »Ich sage, wir rudern am besten über
die Mitte des Sees.«
    »Das tust du doch immer.«
    »Gewiß, jedoch immer ist nicht immer
gleich, gewissermaßen vom Grunde her gesehen, sozusagen, gromtschumalim,
pfüüüh.« Der Rest dieser dunklen Rede ging in unverständliches Blubbern und
Pfeifen über.
    »Ich hab’ so Angst«, wisperte Jenny.
Sie konnte einfach nicht mehr still sein.
    Der Fährmann hob seinen Kopf: »Du mußt
lauter reden, sonst verstehe ich dich nicht.«
    »Es war nichts Wichtiges«, sagte Kalle
Wirsch, »ich habe mehr zu mir selbst gesprochen.«
    Eine Weile ruderten sie stumm durch
die schwarzen Fluten. Dann plötzlich platschte etwas Schweres ins Wasser, und
das Boot ruckte so unerwartet, daß Jenny einen kleinen Schrei ausstieß.
    »Was gibt’s da zu schreien?« fragte
der Fährmann geringschätzig. »Ein König schreit nicht

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