Klemperer, Viktor
Stresemann 2 › gemacht, [‹]ihr einziges Aktivum ist die Aufgabe des polnischen Corridors[›], 3 sie werden etwas unternehmen müssen . –
Auf meine vielen Schreiben habe ich bisher eine auszufüllende Bewerberliste aus England erhalten, die auf alle Welt der Arbeitslosen zugeschnitten ist u. mir gar keine Chance bietet. Qualvoll richtet sich vor mir die Notwendigkeit des Maschinenschreibens auf. Ich habe ein Farbband besorgt u. will auf unserer Remington uralt (3!) morgen zu üben beginnen. Als * Jule Sebba sie mir um 1909 als abgelegt aus seinem Büreau schickte, sah sie glückliche Zeiten. Ich habe * Eva viele Aufsätze in diese Maschine dictiert – ich erinnere mich einer Nacht, da ich den * Jens s en = Aufsatz 1 für die Frankfurter Ztg dictierte, u. dann fuhren wir mit ihm zum Anhalter Bahnhof, u. kamen tot, frierend u. beglückt gegen Morgen heim –, auch mein en zweiten Band * Montesquieu wurde auf ihr geschrieben, danach verstaubte sie, u. Evas Hände versagte[n] den Dienst. Es ist sehr bitter so zurückzublicken.
15. Mai
Ich arbeite langsam am 18 Jh., lese vor, lebe wie sonst, aber anfallweise, morgens vor allem, bei ausbleibender Post, packt mich die gräßliche Angst. Was wird? Wie sollen wir leben, dies Haus festhalten? Wie soll ich bei * Evas Zustand Ersparnisse machen? Eva pflanzt, gärtnert, ich kaufe neue Gewächse, die Katzen brauchen täglich 1
tb
Kalbfleisch, Preis 120–140, Schulden bei * Praetorius, meine Hemden, Strümpfe, Stiefel, mein Anzug zu Ende – es ist wahrhaftig die nackte Misère, wenn mein jetzt schon knappes Einkomen halbiert wird. –
* Georg meldet sich nicht. Mein Brief vom 2. 5. müßte ihn auch in England längst erreicht haben. –
* Weißberger hatte hier den Mund so voll genomen, wie leicht ein turn in Oxford zu haben sei. Jetzt zwei sehr höfliche u. ganz törichte u. negative Briefe. * Cassirer sage, in Oxford sei mit Romanistik gar nichts zu machen. Ich solle nach Zürich u. London schreiben, am besten Fachkollegen selber aufsuchen.
Zürich schrieb höflich, sie hofften in absehbarer Zeit ... Ist das Phrase oder mehr? Sie verlangten französischen u. deutsc englischen Lebenslauf. Der französische quält mich, ich glaube es ist ein unmögliches Französisch geworden, ganz eingerostet. Den englischen ließ ich mir von * Köhler machen u. war erstaunt, wie wenig er der französ. Vorlage entsprach. (Meine Meinung von K. s wirklichem Können hat sehr gelitten). Ich radebrechte diese engl. Vita selber zurecht. Im Punkte Englisch brauche ich mich ja nicht zu schämen. – Nach Besprechung mit * Blumenfeld betonte ich im ersten Satz sehr stark meine Stellung zu Judentum, Christentum u. Deutschtum. Der Entwurf liegt hier bei. Nachher fand Köhler, dies könne allzu nationalistisch klingen, u. ich änderte das: je ne peux ni ne veux être autre chose qu allemand 2 in: je n ai jamais pensé d être autre chose qu allemand. 3 (Seit 8 Tagen quält es mich, ob ich nicht statt d être – être hätte schreiben sollen. – Keine
Keine Antwort von dem Schweizer Verleger, dem ich so ausführlich geschrieben habe. Hab ich gar keinen Marktwert mehr?
Brief von * Agnes Dember: * Spitzer gehe erst 19 36 . Ich käme selbstverständlich in Frage – aber neben * Curtius, habe man gesagt. (Curtius ist mein Schicksal seit 1915 – Akademie Posen; übrigens halte ich es für ausgeschlossen, daß er nach Konstantinopel will. Soviel mir bekannt, hat er noch das Ordinariat Bonn inne; u. müßte er als Demokrat gehen, so hätte er viele Möglichkeiten in Frankreich. Auch gilt er als reicher Mann).
30 Mai, Himmelfahrt .
Aussicht auf das Ausland scheint ganz verschlossen. * Blumenfeld war zu Verhandlung seines Lima-Rufs in Zürich. (Romanzwischenfall: Am Tage seiner Ankunft erhält der peruanische Gesandte ein Telegramm, sein Bruder in Lima sei ermordet, läßt sich nicht sprechen u. reist ab, so daß B. s Sache in der Schwebe bleibt.) B. also sprach mit dem * Geheimrat Demut 1 über meine Angelegenheit. Der sagte: sein Brief an mich sei reine Höflichkeit u. Tröstung gewesen, de facto hätte ich keinerlei Chancen. Er bringe Naturwissenschaftler unter – Geisteswissenschaftler habe er seit Bestehen der Notgemeinschaft nur drei loswerden können, wovon Blumenfeld der dritte sei. – Inzwischen hörte ich von * Hatzfeld, daß eben auch * Lerch entlassen sei, daß man ihm selber die Heidelberger Ordinariatsgeschäfte entzogen habe, die er seit * Olschkis Fortgang
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