Klemperer, Viktor

scheußlicher Energie über die Leiche her. * Frau St. mußte ein nasses Taschentuch u. eine Serviette holen, das Tuch kam auf die Augen, die Serviette band die Kinnlade fest. Dann wurde das Kopfkissen entfernt, dann drückte sie auf die hochgeschobenen Kniee, dann griff sie unter die Bettdecke u. zerrte an den bestrumpften Füßen – er müsse glatt liegen! – dann öffnete sie die gestreifte Jacke des Schlafanzuges, begann die schmale linke Schulter, den dünnen Arm zu entblößen. Sie müssen, Frau St., ich bringe es nicht allein! Frau St., wimmernd auf einem Sessel sitzend, stöhnte: Ich kann nicht! – Aber wir müssen das jetzt machen! E. u. ich griffen ein. Lassen Sie ihn doch. – Man kann ihm die Jacke anlassen, man kann sie ihm auch später aufschneiden. Wir zogen uns nach einer Weile zurück, die Witwe Cohn blieb angeregt bei der Collegin. – Ich selbst bin nicht besser als die * Frau Cohn. Mein einziges Gefühl war u. ist die Angst vor der Ansteckung. Ich bin eine vollkomen kalte Bestie: Evas u. mein Leben ausgenomen, u. das ist nur zweimal Ich, * E. ist mir Notwendigkeit, läßt mich alles Sterben gleichgültig, u. wenn ein Jüngerer stirbt, * Stühlers Geburtsjahr ist 1897! – bedeutet das eine Art Triumph für mich. (Diese abscheuliche Haltung fand ich in irgendeinem * Schnitzlerdrama, ich glaube: Medardus, 1 beschrieben.) Ich graute mich in den Schlaf, kam um 6 h nach vorn, fand Frau St. auf unserem Sopha u. graute mich weiter, empfand die ganze Nutzlosigkeit der Desinfektionsversuche u. gab uns in Schicksals Hand. (Noch ein paar Jahre mit E. leben, nie habe ich es so sehr u. so vielfältig motiviert gewünscht! Die Bücher, die ich noch schreiben, die Reisen die wir noch – by car – fahren möchten, das eigene Haus, der Garten, das Essen u. das Wieder-Mensch-Sein u. nicht Sklave!) Ich ging noch vor dem Frühstück zu * Neumark u. telephonierte mit * Katz, u. jetzt wurde die Ähnlichkeit mit * Felix u. die Jämerlichkeit der Situation besonders eklatant. Katz Stimmung war über Nacht eine vollkommen conträre geworden. Ich solle nicht übermäßig ängstlich sein, von einem Desinficierenlassen durch die Behörden könne heute, im Kriege, nicht die Rede sein; die Hausgemeinschaft möge sich selber schützen, indem sie die Fußböden mit Lysol aufwische. Er, Katz, habe amtlich keinen Anlaß, ja kein Recht, Meldung zu erstatten – täte er s doch, so wären die Folgen für uns alle unberechenbar –, offiziell seien * Cohn u. Stühler an den Folgen einer septischen Angina gestorben, den Seuchenverdacht (etwa vom Brod her) habe er, Katz, nur privat nur freundschaftlich mir gegenüber u. zu mir allein geäußert, u. er verpflichte mich zum Schweigen. So saß ich also Neumark gegenüber als die halbkomische Figur eines Überängstlichen u. eventuellen Hausfriedensstörers da. Ich sagte ihm, Katz sei ein Stimmungsmensch, u. für meinen oder unseren Teil überließe ich mich dem Schicksal. Neumark bot uns an, provisorisch zwei leere Zimmer im 1. Stock zu beziehen, sie hätten Centralheizung, freilich auch Wanzen. Ich lehnte ab. Inzwischen ist eben, 12, Katz gekomen, u. nun wird man sehen, welcher Wind heute bläst. – –
    Zur LTI . * Paul Ernst 1916 (S. 266 Artikel Der Schriftsteller): Die Tätigkeit des Schriftstellers sei immer auf Widerspruch eingestellt . Eingestellt in philosophischer Hinsicht reicht offenbar weit in die Vorkriegszeit zurück. Er Nur als Metapher des allgemeinen Sprachgebrauches ist es jünger, u. die rein technische Wurzel treibt ihre entscheidende Blütenfülle doch wohl erst im 3. Reich. – – * E. fand beim Ofenanzünden einen Dresd. Anzeiger vom 29/Juni 41. Die Todesanzeigen, einzeln dick umrahmt, mit großem Aufgebot dicker Buchstaben, sind jede 4 x so groß als heute die kleingedruckte Einzelanzeige im Massengrab des Sammelrahmens. Ein großes Tier der TH u. hiesigen Industrie, der Koch & Sterzel = Gründer * F. J. Koch, 2 ist von verschiedenen Stellen aus 4 x untereinander in Riesenformat angezeigt. Ich legte einen Samelrahmen vom 28/Nov. 44 darauf: heute müssen sich rund 22 Tote in diesen Raum zwängen. Dabei stehen auf dieser Märchenseite von 1941 schon Kreta = Tote, der Krieg war damals schon fast zwei Jahre alt. – –
    * Katz war eben ein Weilchen hier drin. Ganz abwiegelnd: keinerlei Anzeige, keine übertriebene Ängstlichkeit! Nicht weiter nachforschen!
    Keinen Staub aufwirbeln!! Also: auch dies dem Schicksal überlassen!
    * Max Holzmann[,] * Dostojewski.