Klemperer, Viktor
Schüssel mit stinkendem Lysol-Ersatz auf dem Küchenwaschtisch – aber was hilft das Weihwasser bei dieser Promiscuität? Eben ist die Diele gesäubert worden, da räumt * Frau Stühler, ihr Zimmer reinigend, dessen Inhalt auf die Diele. Oder beide * Stühlers essen in unserem Zimmer, oder Frau St. geht an die Wasserleitung. Usw. usw. in infinitum. Man muß sich dem Schicksal überlassen. Vielleicht ist die Pest schon in uns, vielleicht trifft uns vor ihrem Ausbruch eine Bombe.
3. Dez. Sonntag Abend .
Die Stimmung wird nicht besser, wenn auch eine gewisse Abstumpfung gegen die nackte Todesfurcht eintritt. Heute aß ich schon ein Stück Brod, das uns * Frau St. schenkte – gestern haben wir noch Brod u. Kuchen St scher Provenienz beseitigt. Dazwischen liegt freilich allerhand Desinfection auch des Geschirrs. –
Immer wieder beschämt mich meine Dickfelligkeit. Was mich nicht unmittelbar berührt, lebendig, in natura, nicht in Buch, Zeitung oder Kino, berührt mich nicht. Die beiden Leichen in den beiden anstoßenden Zimmern hier, besonders die des jüngeren u. kräftigen Mannes mit den böse erstaunt aufgerissenen Augen, u. wie sein Körper von der * Frau Cohn beinahe wollüstig zurechtgezerrt wurde – das erfüllt mich mit mehr mehr Grauen als jeder Greuel- u. Schlachtbericht. – Es ist (durch böse Vergripptheit verstärkt) ein triviales metaphysisches Grauen in mir, Leben u. Tod scheinen mir gleich sinnlos u. scheußlich. –
– * E. schwelgt im Besitz einer Netzkarte, einem eben creïerten Gesamtabonnement für die Straßenbahn, das nur 10 M im Monat kostet. Sie benutzte die größere Bewegungsfreiheit zu einem genauen Studium des bombengeschädigten Stadtteils um die Wettinerstr. Es war ein kleiner Angriff vor vielen Wochen, u. noch immer, sagt sie, sind die Zerstörungen schauerlich u. kaum gemildert, obwohl ständig daran gearbeitet wird. Wie also muß es in den ernster u. öfter getroffenen Städten aussehen? Und doch hält sich die deutsche Resistenz. Einerlei ob es aus Feigheit oder Tapferkeit geschieht, ein Wunder bleibt es. Und weil es ein Wunder ist, so kann man sein Ende nicht absehen .. Obschon * Steinitz, der übliche Sonntags-Vormittagsgast erzählte, daß schon manche Fabriken, Materialmangels halber, nur noch 5 Tage in der Woche arbeiten.
Ein Nachtrag zum 30. Nov. An diesem letzten Abend * Stühlers wollte ich mit * Katz die Infektionsgefahr noch genau besprechen. Da, gegen 8 h., kam, zum zweitenmal an diesem 30. X., Alarm. Katz eilte nachhause, sagte mir nur eilig auf der Treppe abwiegelnde Worte im vollen Gegensatz zu seiner Besorgtheit am Mittag, sagte von St. selber, er sei noch längst nicht über den Berg. Der Alarm blieb ohne Kellerfolge, wurde um ½ 9 abgeblasen. In der Nacht starb dann St. u. am nächsten Tage – – das habe ich beschrieben.
Montag Morgen (und später) 4. Dez. 44 .
* Frau St. sagt, nicht Material = , sondern Strommangel zwinge die Fabriken zu Eintagspausen Eintagspausen; auch in den Verkaufsläden (bei Böhme, wo sie tätig, im Reka 1 etc.[)] werde das durchgeführt. Vollster Gegensatz zum Heranziehen aller Arbeitskräfte Arbeitskräfte, zur Erhöhung der Stundenzahl pflichtmäßiger Arbeit. –
Gerüchte über * Hitlers Schweigen (insbesondere am 9. Nov., vorher u. nachher), immerfort, überall diese Gerüchte. Jetzt: er habe einen Schlaganfall erlitten u. die Sprache verloren. Es klingt mir ein bißchen nach der Legende: Das Kind ist blind geboren. 2 Denn: womit Du gesündigt, daran sollst Du gestraft werden!
* Goebbels im Reich – Leitartikel vom 26. XI – semper idem, er sagt selber, man müsse die grundlegenden Maximen ständig wiederholen – man müsse dafür sorgen, daß die Nation fest auf ihren Beinen stehen bleibt ... u. niemals zu Boden geht . – * Churchill (Dr. Z. v. 1. XII, Berliner Bericht) hat am 29/XI., am Vorabend seines 70. Geburtstages im Unterhaus den Endtermin des Krieges wieder vorgerückt, in den Sommer 45 hinein, u. dabei gesagt, fast alle .. Rennen werden auf der letzten Strecke gewonnen, und gerade auf dieser letzten Strecke ist man am allermüdesten. (in den Punkten heißt es: im Verlauf der Zeit vorgesehener Rennen. Was kann der Sinn, was der englische Wortlaut sein?). LTI-Fragestellung hierzu: Wieso ist G. s Sportausdruck abstoßend, Churchills gutartig, passend? Vier Gründe: 1) Boxen gemein, Pferderennen aristokratisch. 2) Der Rennsport ist in England jahrhundertealt, die ihm zugehörige Sprache
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